Unsere Welt neu denken – eine Einladung

Die Kürzest-Version (ein Neujahrswunsch von Sandra / Autor Johann Wilhelm Wilms):
«Ob ein Jahr neu wird, liegt nicht am Kalender, nicht an der Uhr.
Ob ein Jahr neu wird, liegt an uns.»

Die Kurz-Version („neudeutsch: management summary“) nach Dalai Lama:
«Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr, der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Arten. Er braucht Menschen mit Zivilcourage, bereit, sich dafür einzusetzen, die Welt lebenswert und menschlich zu gestalten. Diese Qualitäten haben wenig mit der Art Erfolg zu tun, die in unseren Kulturen verbreitet ist.»
(Aus dem GEA-Waldviertler-Newsletter von Heini Staudinger am 5.1.2022)

In diesem Sinne: schaffen wir uns gemeinsam ein gutes neues Jahr!

Die Langversion mit spontan ausgewählten Zitaten aus dem gleichnamigen Buch:

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Ob die Idylle trügt? – heutiges Leben in Italien

Schon letztes Jahr hatte ich mir Gedanken gemacht über die heutigen Lebensbedingungen in Italien. Zu offensichtlich, dass Italien nicht einfach mehr das Sehnsuchtsland von früher ist, welches vor allen Dingen Lebensfreude und Herzlichkeit, Pasta und Gelati, Kunstsinn und üppige Natur in sich vereint. Auch in Italien sind neoliberales Profitdenken und globalisierter Konsumwahn angekommen. Das italienische Naturell macht es dabei nicht einfacher: Roberto Saviano geht dem auf den Grund im Buch „Erklär mir Italien“ (mein Blogbeitrag vom 18.9.2019).

Im Workaway-Einsatz bei Antonio erleben wir direkt und authentisch, was es heisst von „struktureller Armut“ betroffen zu sein.

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Die Kraft der kollektiven Weisheit

Mein Interesse für die Themen Nachhaltigkeit, Sharing Community, Ökologie etc. brachte mich Anfang 2020 in Kontakt mit dem ostschweizerischen Ökodorf Herzfeld Sennrüti. Hier begleite ich junge Menschen aus Russland, Türkei und Albanien als externer Mentor während ihres Einsatzes im Rahmen des europäischen Freiwilligenjahres EVS. Eine hervorragende Gelegenheit, um auch gemeinschaftlich-ökologische Projekte „vor der eigenen Haustür“ kennenzulernen.

Und darüber stosse ich denn schnell auf weitere interessante Informationen:
Kosha A.Joubert / Leila Dregger, Ökodorfer weltweit – lokale Lösungen für globale Probleme, Verlag Neue Erde, 2015
Das Buch portraitiert zahlreiche eindrückliche Ökodorf-Gemeinschaften auf allen Kontinenten. Die ehrlichen und offenen Interviews geben Einblick in die Entstehungswege, in Stärken und Schwächen, „Fehler“ und Erfolge.

Der Eurotopia-Versand vertreibt Literatur rund um die Ökodorf-Gemeinschaften, so etwa:
Eurotopia – Verzeichnis von Ökodörfern + Gemeinschaften in Europa (Michael Würfel Hrsg)
Michael Würfel, Dorf ohne Kirche – die ganz grosse Führung durch das Ökodorf Sieben Linden (locker verfasstes und leicht lesbares Portrait über das Alltagsleben im Ökodorf)

Schliesslich stosse ich auf das Buch von Kosha Anja Joubert, Die Kraft der kollektiven Weisheit – wie wir gemeinsam schaffen, was einer allein nicht kann, Kamphausen Verlag Bielefeld, 2009/2010. Dieses schlägt einen grossen Bogen über die gedanklichen, erkenntnistheoretischen und philosophischen Grundlagen, von Systemtheorie über Konstruktivismus und Spiraldynamik bis zu Wahrnehmung und Kommunikation. Das Buch stellt aber auch eine Fülle praktischer Methoden zusammen, welcher sich viele der gemeinschaftlich konzipierten Projekte bedienen. Eine Fundgrube anregender Impulse und Metaphern zum Weiterdenken.

Die Welle schläft im Ozean. „Das Potenzial zur Form und Sichtbarkeit liegt schlummernd im Unsichtbaren, die Welle schläft im Ozean. Der Quantenphysiker David Bohm (1917-1992) beschreibt in seinem Buch „Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus“ die immanente Ordnung als Feld, in dem die sichtbare Welt „eingefaltet“ ist, bevor sie sich ausdrückt. Die Entfaltung in die Form kommt einem Aufblühen aus der impliziten Ordnung in die explizite Ordnung gleich. So kann ein Same als ein Tor gesehen werden, durch welches das Implizite, das Verborgene, ins Explizite strömt.“ (S.31)

„Im Moment scheint es hilfreich, mit Begrifflichkeiten wie Feld und System, Gemeinschaft und Kollektiv zu spielen. Wir können uns auf unserer Forschungsreise hin zu mehr Verbundenheit und Kooperationsbereitschaft an Analogien versuchen, fraktale Musterbildung in kollektiven Strukturen erkennen und unser Bewusstsein für die impliziten Aspekte unserer sozialen Realitäten schulen. In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders.“ (S.33)

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Weiterführende Links:
GEN-Suisse / Schweizer Zweig des Global Ecovillage Network
GEN-Europe / Europäische Plattform des Global Ecovillage Network
ecovillage.org / Global Ecovillage Network – Catalyzing Communities for a Regenerative World
GAIA Education / die Bildungs-Plattform des Global Ecovillage Network

Was bleibt …. ist die Liebe

Es dürfte 1977 gewesen sein, als ich 19-jährig meine erste Reise alleine per Autostopp durch Frankreich unternahm. Die Reisestrecke ergab sich damals aus den Mitfahrgelegenheiten: Saarbrücken, Metz, Caen in der Normandie, Bayeux, Mont St.Michel, Binic in der Bretagne, Saint Brieux, Paris, Dijon, Taizé … so etwa die Etappenziele. Was mir besonders in Erinnerung blieb, nebst den üblichen Sehenswürdigkeiten? … In Binic ass ich die ersten Langoustines meines Lebens; vom Kellner musste ich mir erklären lassen, wie man diese isst. Im Hintergrund lief ein französischer Chanson, der damals gerade hoch im Kurs war: „Prendre un enfant par la main“ von Yves Duteil. Ein sehr feinfühliger Text, der es in sich hat. Fabienne Marsaudon, welche wir beim Brel-Barbara-Konzert erleben durften, hat mir dieses schöne Lied wieder in Erinnerung gerufen. Unten der Liedtext in Originalsprache (weil er nur in französisch so melodiös und prägnant klingt).

Und der Klassiker von Jacques Brel durfte natürlich auch nicht fehlen: Quand on a que l’amour … wunderschön schlicht und glaubwürdig interpretiert von Fabienne Marsaudon.

Zwei Liedtexte, die für mich eine starke Antithese darstellen zur scheinbaren Zwangsläufigkeit von Krieg, Gewalt, Profitgier und Eigennützigkeit.

PRENDRE UN ENFANT PAR LA MAIN (Yves Duteil, 1977)

Prendre un enfant par la main
Pour l’emmener vers demain
Pour lui donner la confiance en son pas
Prendre un enfant pour un roi

Prendre un enfant dans ses bras
Et pour la première fois
Sécher ses larmes en étouffant de joie
Prendre un enfant dans ses bras

Prendre un enfant pas le coeur
Pour soulager ses malheurs
Tout doucement sans parler sans pudeur
Prendre un enfant sur son coeur

Prendre un enfant dans ses bras
Mais pour la première fois
Verser des larmes en étouffant sa joie
Prendre un enfant contre soi

dou, dou, dou, dou…

Prendre un enfant par la main
Et lui chanter des refrains
Pour qu’il s’endorme à la tombé du jour
Prendre un enfant par l’amour

Prendre un enfant comme il vient
Et consoller ses chagrins
Vivre sa vie des années et soudain
Prendre un enfant par la main

En regardant tou au bout du chemin
Prendre un enfant pour le sien

Quand on n’a que l’amour (Jacques Brel, 1956)

Quand on a que l’amour 
A s’offrir en partage 
Au jour du grand voyage 
Qu’est notre grand amour

Quand on a que l’amour 
Mon amour toi et moi 
Pour qu’éclatent de joie 
Chaque heure et chaque jour 

Quand on a que l’amour 
Pour vivre nos promesses 
Sans nulle autre richesse 
Que d’y croire toujours 

Quand on a que l’amour 
Pour meubler de merveilles 
Et couvrir de soleil 
La laideur des faubourgs 

Quand on a que l’amour 
Pour unique raison 
Pour unique chanson 
Et unique secours 

Quand on a que l’amour 
Pour habiller matin 
Pauvres et malandrins 
De manteaux de velours 

Quand on a que l’amour 
A offrir en prière 
Pour les maux de la terre 
En simple troubadour 

Quand on a que l’amour 
A offrir à ceux là 
Dont l’unique combat 
Est de chercher le jour 

Woche 8 / 13.-19.Mai 2019

Das vergangene Wochenende stand ganz im Zeichen des Mittelalterfestes in Montreuil-Bellay, das mit einem eigenen Text- und Bildbeitrag dokumentiert ist. Am Sonntagnachmittag stiegen wir dann wieder aus unseren Kostümen sowie Rollen aus und besuchten zum Abschluss ein Orgelkonzert in der eindrücklichen romanischen Basilika von Cunault, nun wieder an der Loire westlich von Saumur. Fünfhundert Meter vor dem Ortseingang ein wunderschön gelegener Stellplatz im Hochwasserbett der Loire, auf welchem der Bäcker mit seinem R4 morgens um acht Uhr den Weckruf hupt. Wer steht schon nicht gerne auf, wenn einem das frische Brot praktisch ans Bett geliefert wird, herrlich. Dazu stahlblauer Himmel und strahlende Morgensonne; dies die positiven Nebeneffekte des kühlen Nordostwindes.

Am Montag besuchten wir „les hélices terrestres“, die irdene Helix des Künstlers Jacques Warminski (1946 – 1996) in Saint-Georges-les septs-Voies. Nochmals ein Eintauchen in die Thematik der Troglodytes (Höhlenwohnungen) im Anjou.
Der Sohn polnischer Flüchtlinge sei hier als Junge durch die Felder und Büsche der Gegend gestreift … und dabei durch einen überwachsenen Kamin ins Leere gestürzt. Er fand sich einige Meter tiefer in einer verlassenen und verwilderten Höhlenwohnung wieder, was offenbar seinen Entdeckerdrang entfachte. Er sei dann immer wieder hergekommen und habe allmählich die Überreste einer kompletten dörflichen Siedlung entdeckt. Im Laufe seines Studiums der Künste und seiner weiteren künstlerischen Tätigkeit (vorwiegend „de l’art éphémère“ – vergängliche Kunst im natürlichen Raum) sei ihm klar geworden, dass er mit jenem Sturz durch den Kamin recht eigentlich „in seine Berufung hineingefallen“ sei. Er machte es sich zur Aufgabe, die vormaligen Besitzer dieser Höhlenwohnungs-Ruinen ausfindig zu machen und allmählich sämtliche „cavités“ aufzukaufen. In den neunziger Jahren machte er sich daran, den Weiler „l‘ Orbière“ der Verwilderung zu entreissen, die Höhlen zugänglich zu machen und sie mit seinen künstlerischen Visionen auszugestalten. Das Spiel zwischen „konkav“ und „konvex“ zieht sich wie ein roter Faden durch sein unermüdliches Schaffen. Mit unerhörtem Körpereinsatz (er war selbst ein schwergewichtiger riesiger Mann) und mit Unterstützung von Helfern habe er Tausende von Kubikmetern Sandstein ausgehoben, weitere Höhlen geschlagen, Symbole und Ornamente eingebracht …. und mit Tausenden Kubikmetern Beton einen nach oben offenen Ampitheater-ähnlichen Trichter gestaltet: das Pendant zu seiner unterirdischen Welt. Nach rund fünf Jahren und nach Abschluss der zentralen Elemente seines Projektes sei er 1996 gestorben. Ein kompetenter und facettenreicher Artikel über den Künstler findet sich hier (französisch).

Zu schön, dass wir noch am selben Abend unseren letzten Besuch im Anjou machen dürfen: wir sind eingeladen, Guy (den pensionierten 70-jährigen Fouée-Bäcker vom Tag der offenen Tür) und seine Frau Nicole in deren troglodytischem Zuhause in Montsoreau zu besuchen. Die beiden haben nach der Pensionierung die bisherige Ferienwohnung zu ihrem Haupt-Wohnsitz gemacht. Abgesehen von einem Wintergarten-ähnlichen Anbau aus Holz und Glas befinden sich noch sämtliche ihrer Räume in Sandstein-Höhlen. Die alten Waschtröge, das Lager für die Weinfässer, Weinpresse und Wein-Trog, offener Kamin und Kochstelle – das ist alles noch sichtbar und integriert. Wände und Decken sind gekalkt und die Böden mit alten Tonplatten und teilweise mit Holzparkett komfortabel ausgelegt. Zeitgemässe Annehmlichkeiten wie Strom, Wasser, Toiletten und Dusche sind eingebaut. Geheizt wird aber nach wie vor nur mit Holz, entweder im geschlossenen Feuerraum (gewissermassen im Sockel des Cheminées – mit automatischer Warmluft-Abgabe an den Wohnraum) oder in der offenen Feuerstelle mit Kamin. Die Temperatur sei ganzjährig recht angenehm, wenn auch mit 18 bis knapp 20 Grad für die „normalen“ Gewohnheiten unserer Zeit doch eine Herausforderung. Einzig der Nordostwind, der zufällig auch an diesem Abend bläst, sei unangenehm und drücke den Rauch in den Kamin zurück. Das tut der guten Stimmung und der herzlichen und gastlichen Atmosphäre aber keinen Abbruch. Wunderbare Gespräche bei Quiche und Wein; herzlichen Dank, Nicole und Guy, und hoffentlich auf Wiedersehen eines Tages in der Schweiz.

Damit beschliessen wir unseren Aufenthalt im Anjou, in dieser einzigartigen Gegend im unteren Loire-Tal, welche einst Ufer und Untergrund eines längst verschwundenen Meeres war. Daher die ausgeprägte Fruchtbarkeit, die Eignung des Bodens für den Weinbau – und daher die Tatsache, dass in diesen Böden noch heute rund 14’000 Höhlen und unzählige Kilometer unterirdischer Weinkeller, Champignon-Kulturen etc. zu finden sind. Den meisten Menschen ist das Loire-Tal als Tal der prunkvollen Schlösser bekannt. Wir durften in dieser Woche auch eindrückliche Blicke in den Untergrund machen, erleben woher das Baumaterial für diese Schlösser überhaupt kam … und eine sympathische Welt mit originellen und herzlichen Menschen „hinter und unter den Fassaden“ kennenlernen.   

Da ist noch etwas: Am Mittelalterfest in Montreuil-Bellay hatte eine Gruppe engagierter Jugendlicher einen Informationsstand aufgebaut. Sie engagieren sich partnerschaftlich für ein Behindertenheim in Ourika, in einem Tal des Hohen Atlas unweit von Marrakech in Marrokko. Bisher wurde Geld gesammelt, um Lehrkräfte und praktischen Unterricht in einem Schulgarten zu finanzieren. Heute nun werden getrocknete Gewürze aus jenem Garten verkauft. Ziel der nächsten Finanzierungsaktion ist es, einigen jener Jugendlichen mit körperlicher Behinderung diesen Sommer eine Reise nach Montreuil-Bellay zu ermöglichen. Da helfe ich gerne mit, verbinden mich doch gleich mehrere Leidenschaften mit dieser Aktion: Marrokko war ein unvergesslich schönes und gastliches Land für meine Fahrrad-Touren, dann teile ich sehr gerne die Vision einer solidarischen und gerechten Gesellschaft mit gleichwertigen Chancen auch für Menschen mit Behinderung … und schliesslich kann ich mir durchaus vorstellen, dass einer meiner Workaway-Einsätze im kommenden Winter auch in Ourika stattfinden könnte. Super Engagement dieser Jugendlichen aus Montreuil-Bellay!
Beim Büchsen-Schiessen an ihrem Stand gelang es mir, 8 von 10 Büchsen zu treffen. Nicht genug für den Hauptpreis, einen ganzen geräucherten Beinschinken. Überraschenderweise brachte mir Guy aber tags darauf eine Flasche Wein, die ich anscheinend gewonnen hätte. Zum Wohl!

Diese Woche erfuhren wir, dass Jean Vanier am 7.Mai neunzigjährig einem Krebsleiden erlegen sei. Am Donnerstag 16.Mai findet die Beerdigung in Trosly-Breuil bei Paris statt. Die Nachricht (vgl. den Nachruf in der NZZ am Sonntag) berührt uns, zumal wir ja gerade auf dem Weg sind zu einer Arche-Gemeinschaft in der Bretagne. Jean Vanier, ehemaliger kanadischer Marineoffizier, dann Philosophie- und Theologieprofessor begann in jungen Jahren, sich radikal für Menschen mit geistiger Behinderung einzusetzen und mit ihnen in würdiger und gleichwertiger Form zusammenzuleben. Daraus entstand die Arche-Bewegung, welche heute 152 Gemeinschaften auf der ganzen Welt umfasst. Menschen, die damals noch in unwürdigster Weise in psychiatrischen Kliniken dahin vegetierten, haben inzwischen auch andernorts in unserer Gesellschaft Akzeptanz, Existenzsicherung und angemessene Versorgung erfahren. Das besondere – spirituell und jesuanisch motivierte – radikale Engagement für ein gleichwertiges Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung, wie es die Arche-Bewegung postuliert und lebt, stellt aber immer noch einen speziellen Leuchtturm dar: denn professionelles Handeln für jemanden (gegen Geld, Status und Anerkennung) ist meist nochmal was Anderes als ganz persönliches, uneigennützig solidarisches Engagement. 

Dieser feine Unterschied ist nicht leicht zu fassen. Der Hirnforscher Gerald Hüther spricht in seinem Buch über die Würde des Menschen von der Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt. Vielleicht ist dies eine passende Beschreibung für diesen feinen Unterschied: im einen Fall leiste ich einen Job, setze meine Fachlichkeit und meine Energie ein, halte aber eine sogenannt „professionelle Distanz“ und mache einen andern Menschen damit zum Objekt meiner Bemühungen, Forschungen etc.. Im andern Fall lasse ich mich auf eine Begegnung von Mensch zu Mensch ein, lasse mich persönlich berühren und begegne damit einem gleichwertigen Subjekt. (Selbstverständlich sei damit nicht ausgeschlossen, dass auch in institutioneller fachlicher Arbeit würdevolle Beziehungen von Subjekt zu Subjekt geschehen können, so gut wie auch das Wirken in Arche-Gemeinschaften nicht automatisch frei von entwürdigenden Objektivierungen ist.)

Die Gefahr ist unübersehbar, dass unsere Gesellschaft allenthalben zur Objektivierung neigt – zur „Vermarktung“ auch persönlichster Ressourcen – und dass persönliche Begegnungen zwischen Subjekten, ein sich-berühren-lassen von Mensch zu Mensch, für dieses profit- und machtgetriebene System tendenziell unkontrollierbar und damit unerwünscht sind.

Ich will mich ganz entschieden für das subversive Potenzial der persönlichen Begegnung und für das Prinzip der menschlichen Würde und Freiheit einsetzen. Lassen wir uns diese ursprünglichste Fähigkeit, den konkreten zwischenmenschlichen Austausch von Gütern und Ressourcen, das Verschenken von Zeit, Gastfreundschaft und Freude, nie nehmen. Denn kein Roboter kann ersetzen, was persönliches gegenseitiges Interesse im Tiefsten ausmacht. 

Jean Vanier, aber auch zahlreiche jener einfachen und bodenständigen Menschen, denen wir in den letzten Wochen begegnen durften, stehen für dieses persönliche Engagement: einfach leben. EINFACH leben. Einfach LEBEN. Oder in den Worten des Philosophen Martin Buber: Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Darin liegt wohl der wahre Antrieb auch für unser Reiseprojekt.

Der Dienstag ist ein ausgesprochener Reisetag: aus der Gegend von Saumur fahren wir nach La Gacilly am Eingang zur Bretagne. La Gacilly ist Herkunfts- und Gründungsort, aber auch kultureller Mittelpunkt der weltweiten Natur-Kosmetiklinie „Yves Rocher“. Der einstmals verschlafene und von Abwanderung bedrohte Ort ist heute ein lebendiges Künstlerdorf, touristischer Anziehungspunkt und eindrückliches Zeugnis der visionären und innovativen Kraft von Yves Rocher. Das sehr modern inszenierte Museum und die jährlich stattfindenden Foto-Ausstellungen im Naturraum sind tatsächlich eine Reise wert.  

Via Rochefort-en-Terre führt uns der Weg anschliessend auf einen idyllisch gelegenen kleinen Bauernhof-Camping direkt am „Golfe du Morbihan“ (Noyalo, 47°36’41“N, 02°41’43“W). Erstmals sehen wir wieder Meerwasser und das eindrückliche Spiel der Gezeiten, wenn auch noch nicht das offene Meer. Dieses sehen wir erst auf der Fahrradtour über die Halbinsel („Presqu’île de Rhuys“), als wir das Château de Suscinio besuchen: prächtig gelegen zwischen Lagunen und Moorlandschaft, das einstige Jagdschloss der Ducs de Bretagne.

Ausspannen, Schreiben, Lesen, (elektronisch) Kontakte pflegen – und erstmals in diesem Jahr die sommerliche Stimmung geniessen. Wunderbar.

Am Freitag und Samstag besuchen wir die Altstadt von VANNES; abwechslungsreiche Szenerie für einen eher regnerischen Tag. Und schliesslich die Weiterfahrt an unser nächstes Zwischenziel: für Samstagabend 18.Mai sind wir in Clohars-Fouesnant angemeldet, bei Nicolas und Monique bzw. zum nächsten Projekteinsatz in der Arche-Gemeinschaft „Le Caillou Blanc“, wo wir schon im Jahr 1991 zusammen mit unseren Kindern einen fünfmonatigen Einsatz machten.

Im Lande der (R)evolution

Vielleicht kommt es doch nicht ganz von ungefähr, dass wir uns vor vier Jahren beim Kauf unseres Camping-Cars für den „Globecar (R)Evolution“ entschieden hatten. Tatsächlich hat der Name schon damals bei mir alte Sympathien hervorgerufen. Eine gewisse Faszination für alles Unkonventionelle hat mich schon immer begleitet. Kommt dazu, dass in diesem Begriff nicht nur von der (oft negativ konnotierten und oft mit Gewalt verbundenen) Revolution die Rede ist, sondern auch gleichzeitig von der Evolution, der immerwährenden und notwendigen Entwicklung (oder Ent-wicklung). Alles ist Bewegung, alles ist Veränderung – und so gesehen ist alles in Entwicklung, auch wenn manchmal vermeintliche Rückschritte augenfällig sind.

Heute – beim Ausmähen der rund dreihundert Meter langen Kastanien-Allee des Schloss-Weingutes – gingen mir viele Gedanken durch den Kopf; einige davon haben mir wohl einen neuen Zugang zu den Grundsätzen der französischen Revolution verschafft.

Liberté – Egalité – Fraternité

Die Gleichheit (égalité) setze ich nun einfach mal voraus. Ob Weinbauer, Schlossbesitzer oder freiwilliger Workawayer, wir alle haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Lebenswege, Erfahrungen und Lebens-Aufgaben. Oft wissen wir gar nicht, welche davon sich hinter dem Gesicht eines Gegenübers verbergen. Gleichheit und Gleichwertigkeit gilt für mich einfach ganz grundsätzlich.

Die Brüderlichkeit (fraternité) und sinngemäss natürlich die Geschwisterlichkeit leben wir konkret mit unserem Workaway-Einsatz: etwas Zeit verschenken, in andere Lebenswelten eintauchen und ganz praktisch mit anpacken. Derzeit gibt es ja gerade wieder einige neurobiologische Studien und Filme, die die These untermauern, dass Menschen grundsätzlich auf Altruismus gepolt seien. Ja tatsächlich, es macht Spass, etwas Sinnvolles (Not-wendiges) zu tun, irgendwo mitzuwirken und dabei zu spüren, dass der eigene Einsatz geschätzt wird und jemandem tatsächlich Freude bereitet.

Und über all dem die Freiheit (liberté), in meinem Fall die grandiose und unermesslich wertvolle Freiheit, einfach das zu tun was Spass macht, mich dort einzusetzen wo ich unmittelbar Sinn stiften kann …. und mich auch zu verabschieden, wenn mir diese zentralen Bedingungen meiner selbst nicht mehr gegeben scheinen. Wer Zeit und Arbeit verschenken kann, ist tatsächlich „sein eigener Herr und Meister“.

Ob solcher Gedanken kommt mein Idealismus bereits wieder in Fahrt; wann wohl kommt es in der Schweiz zu einer zweiten Abstimmung über das „bedingungslose Grundeinkommen“? Ich meine zu erahnen, dass dies eine zentrale Grundlage von „Liberté – Egalité – Fraternité“ und damit tatsächlich (r)evolutionär sein könnte.