Das hohe Venn ist die Bezeichnung der Hochebene im Osten Belgiens, das als eines der grössten Hochmoore Europas von grosser Bedeutung ist. Das Gebiet war früher mit Birken-und Erlenwäldern bedeckt. Durch dieses Gebiet ist ein Weg nachweisbar bis ins 6. Jahrhundert. Das Moor hat den hölzernen Unterbau konserviert. Dieser Weg, Vèguée genannt, wurde als Verbindungsweg der Bistümer gebraucht und diente später als wichtiger Handelsweg. Im Mittelalter geriet die Strasse in Vergessenheit. Säulen und Holzpfähle gaben dem Reisenden die Richtung an, ebenso erste Herbergen. Heute ist der Weg ein Forst-und Wanderweg. Die Hauptstrasse führt einige Meter parallel dazu. Durch Besiedelung am Rand des hohen Venn wurde geholzt, geweidet und Torf abgebaut. Später wurden infolge Holzmangel grosse Gebiete mit Fichten in Reih und Glied angebaut. Heute werden diese wieder mit Buchen, Erlen und Birken ersetzt. Zum Teil werden auch wieder Heidegebiete geschaffen. Das ganze Gebiet ist ein riesiges Naturschutzgebiet mit wenigen Wegen, teilweise sind es erhöhte Holzstege durch sumpfiges Gebiet. Informationstafeln und Broschüren vermitteln viel Wissenswertes und Erstaunliches dazu, z.B. Torf wächst im Jahr 1mm, die dortigen Schichten sind teilweise 8-9 Meter dick, rechne! Oder dass die Namensgebung der Menschen hier bis vor kurzem wie im Appenzellerland von der Herkunft des Hauses stammt, z.B. Petisch Will, Willhelm aus dem Haus Petisch.
„Das Hohe Lied des Hohen Venn“ weiterlesenWoche 15 / 29.Juni – 4.Juli
Am Freitagmorgen verliessen wir den grünen Garten in Maldegem und fuhren Richtung Antwerpen. Der zunehmend dichte, abenteuerliche und dreispurige Lastwagen-Verkehr lässt keine Zweifel offen: wir sind in der Nähe eines der wichtigsten Handelshäfen (und angeblich auch Drogen-Umschlagplatzes) Europas. Mit höchster Konzentration und Navigations-Anstrengung umfahren wir diesen Kontenpunkt und erreichen schliesslich die Provinzstadt Mechelen. Nett und ebenfalls von Wasserwegen durchzogen, steht diese aber klar im Schatten der berühmteren Schwestern Brügge und Gent. Wenig später dann ein Halt in einer der ältesten Universitätsstädte Europas, in Löwen/Leuven. Hier wieder ein pulsierendes Zentrum voller junger Menschen und altehrwürdiger Gebäude, die sich in ihrer Verspieltheit sehr gut mit dem jungen Flair vertragen. Richtig schön, frisch und sympathisch, nicht zuletzt wegen der guten Eisdielen.
Die Stadt hätte zwar etwas ausserhalb einen gut klingenden Stellplatz, die Verkehrsführung war hier aber einmal mehr so verwirrend und unübersichtlich, dass wir es vorzogen andernorts um einen Übernachtungsplatz Ausschau zu halten. An Lüttich/Liège vorbei erreichen wir das Tal der Ourthe und den kleinen Ort Tilff, wo wir beim Carrefour tanken und gleich auch einen passenden Parkplatz am Flüsschen vorfinden. Ein warmer Sommerabend zieht überraschend viele Menschen in die Gassen; die für den kleinen Ort erstaunlich zahlreichen Restaurants und Terrassen sind voll, die Ferien-Atmosphäre dringt bereits durch. In Belgien ist an diesem Freitagabend Ende Juni Sommerferien-Beginn und die Schüler geniessen nun volle zwei Monate ihre Sommerruhe.
Anderntags gondeln wir gemütlich durch das Tal der Ourthe, queren mehrfach den gemütlich mäandrierenden Fluss, passieren stimmungsvolle kleine Ortschaften und erreichen schliesslich Aywalle. Wir nehmen überrascht zur Kenntnis, dass der geschichtsträchtige Bade-Kurort Spa (der dem heute so verbreiteten Wellness-Trend möglicherweise seinen Namen lieh / lateinisch „sanus per aquam“, gesund durch Wasser) ganz in der Nähe liegt und dass Spa/Francorchamps mit seiner Formel-1-Rennstrecke seit 1925 Austragungsort des „Grossen Preis von Belgien“ ist. Die liebliche Hügellandschaft und eine derartige Rennstrecke, mit allen Zufahrtsstrassen, Tribünen, Parkplätzen, Schilderwald etc. passen wie die Faust aufs Auge. Hier geht mir jedes Verständnis ab für Sinn und Nutzen solcher Anlagen.
Die Landschaft bleibt dennoch als schön in Erinnerung; übrigens eine Gegend die bis zu den Versailler Verträgen von 1920 zu Deutschland gehörte und in der die deutsche Sprache an Bedeutung gewinnt, ja sogar zur Umgangssprache wird, je näher wir zur Grenze kommen.
Ja, Belgien ist ein dreisprachiges Land, schafft das versöhnliche Miteinander von flämisch, französisch und deutsch sprechenden Landesteilen aber anscheinend nicht wirklich herzustellen. Nach Ansicht unseres Gastgebers liegt der Grund darin, dass der erfolgreiche und reiche Norden nur begrenzt Lust habe, den légèren und tendenziell „fauleren“ Süden mit Ausgleichszahlungen zu unterhalten.
Nach Besuch der modern restaurierten Klosterruine in Stavelot (sie beherbergt heute ein sehr ansprechendes Museum zeitgenössischer Kunst) und des Bezirksortes Malmedy erklimmen wir das Hochplateau des Hohen Venn. Der Parkplatz beim Signal de Botrange ist ideal für durchreisende Camper (und anscheinend auch für Bauernbuben aus der Nachbarschaft, die hier spätnachts unerlaubterweise ihre Fahrschule absolvieren und endlose Runden drehen; der Fahrer bzw. Fahr-Knabe sah knapp über das Lenkrad hinaus und dürfte wohl kaum älter als 14 gewesen sein). Der Ort lohnt dennoch eine Übernachtung, ist man doch anderntags schon gleich zum Sonnenaufgang auf den Wegen durch das Hochmoor. (vgl. Beitrag Renata zum Hohen Venn)
Am Sonntagnachmittag fahren wir bei hochsommerlichen Temperaturen über die Grenze nach Deutschland, folgen dem Kylltal, welches für seinen Radwanderweg auf der Trassee einer stillgelegten Dampfbahn bekannt ist und gelangen schliesslich in die Vulkan-Eifel, eine abenteuerlich klingende und uns bislang unbekannte Gegend. Das kleine und sympathische Feriendorf am Pulvermaar bei Gillenfeld bietet uns einen fantastischen Stellplatz, sozusagen auf einem ehemaligen Kraterrand. Mehr zu den Maaren in der Eifel.
Am Montag gönnen wir uns einen ausgedehnten Schreib-, Lese- und Badetag am Pulvermaar, fahren per Velo zum Einkauf, geniessen ein Grill-Znacht … und freuen uns, als am Abend ein weiteres Reisemobil mit AR-Kennzeichen aus der Schweiz anfährt. Schnell stellt sich heraus, dass diese vielgerreisten Camper aus Gais AR stammen …. und dass er vor gut 25 Jahren als Baggerführer den Aushub der Häuser in unserem Quartier gemacht hatte. Wie klein die Welt doch ist.
Nach einer weiteren Übernachtung am Pulvermaar lädt das schöne Wetter am Dienstag zu einer Radtour zum „Strohner Määrchen“ (einem kleinen verlandenden Krater-Moor), zur „Lavabombe“ in Strohn und dann weiter ins Tal des Alfbach. Ein idyllisches und liebliches Wiesental mit schönen Blumenwiesen. Wo zu Zeiten des hiesigen Klosters die Kapelle Schutzalf stand, erinnert heute eine liebevoll gestaltete stille Gedenkstätte mit einem schlichten Glockenstuhl. Ein rühriger Gemeindepräsident hat die Geschichte dieses besonderen Ortes recherchiert und zugänglich gemacht. Chapeau. Danach geht die Fahrt zurück, vorbei am Vulkanhof, der mit den auserlesenen Ziegenprodukten natürlich zu einem Halt einlädt: ein exquisiter Käseteller mit einem Schluck Moselwein und dem Meckern der Ziegen im Hintergrund. Was könnte stimmiger sein?
Anschliessend fahren wir via Steinerberg (der dortige Aussichtsturm mit wunderbarem Blick über die Vulkaneifel lohnt den Aufstieg) und via Ulmen an die Mosel, wo beim Winzer in Ellenz-Poldersdorf ein perfekter Stellplatz zur Übernachtung einlädt.
Der wunderschön frische Mittwochmorgen ist wie gemacht für eine Radtour nach Ediger-Eller (Christoph) bzw. für eine Fährenfahrt nach Beilstein (Renata). Eigentlich wären hier die perfekten Bedingungen, um endlich unser Faltboot aufzubauen und ein weiteres Stück Mosel zu paddeln. Da wir am Donnerstagabend zuhause ankommen möchten, ruft uns die Strasse: mittags fahren wir weiter Mosel-abwärts bis Brodenbach, dann auf die Hunsrück-Höhenstrasse und per Autobahn in Richtung Karlsruhe. Ein günstiger gelegener und ausreichend ausgestatteter Stellplatz am Albgaubad in Ettlingen bei Karlsruhe ist unser Übernachtungsort. Beim Spaziergang durch das sympathische alte Marktstädtchen Ettlingen wächst uns dieser Ort geradezu ans Herz, soviel Wasser, Grünflächen, liebevoll restaurierte Gassen und Häuser … und unweit unseres Stellplatzes gelangt man mit wenigen Schritten ins Grüne. Weite Naturwiesen mit frei zugänglichen Hochstamm-Obstbäumen, Schrebergarten-Flächen, alten Parkbäumen und einem munteren Bächlein stehen der Bevölkerung zur Verfügung. Kein pefekt getrimmter steriler Park, keine eingezäunte landwirtschaftliche Zone, einfach ein naturbelassener Lebensraum zur allgemeinen Nutzung. Wie schön.
Am Donnerstag folgen wir der Bundesstrasse bis Pforzheim, nehmen dann die Autobahn Richtung Singen – und entscheiden uns kurzentschlossen zu einem späten Mittagshalt in Donaueschingen. Ein Versäumnis, dass wir diesen Ort nicht schon früher mal besucht hätten. Ein super Stellplatz, von dem aus der wunderbare Fürstenberg-Park durchschritten wird, um ins Ortszentrum zu gelangen. Beim fürstlichen Schloss lädt natürlich die (symbolische) Donauquelle zum Besuch. Dies umso mehr, als Christoph in 14 Tagen zu weiteren 1000km Paddeln auf der Donau aufbrechen wird. Während er an der TID 2018 die ersten 1000 Donau-KM von Ingolstadt (DL) nach Mohacs (Ungarn) paddelte, folgt mit der TID 2019 die zweite Teilstrecke von Mohacs an der ungarisch-kroatischen Grenze bis nach Silistra (Bulgarien). Die Donau ihrerseits fliesst dann noch knapp 500km weiter bis zur Mündung ins Schwarze Meer.
Nach einer kurzen Mittagspause nehmen wir das letzte Teilstück unter die Räder und treffen Punkt 17 Uhr in Trogen ein, wo wir von Lukas und Lisa sehnlich erwartet und sehr herzlich empfangen werden. Wir geniessen in den folgenden Tagen die zahlreichen Begegnungen mit lieben Freunden, geniessen es Zeit zu haben für ausführliche Gespräche und Austausch und freuen uns, wie selbständig sich unser Garten entwickelt hat. Nach dreieinhalb Monaten ist der Blick auf das Gewohnte wieder frisch und unvoreingenommen und die Freude über das, was sich entwickeln konnte (nicht nur im Garten), gross.
Wir sind glücklich und zufrieden zuhause angekommen, dankbar für die unfallfreie Fahrt über gut 5000 km während der rund 3,5 Monate. Viele Erfahrungen durften wir machen, viele schöne Zu-fälle und Begegnungen geniessen und viele Anregungen zum Nachdenken mit nach Hause nehmen. Bis zur nächsten Etappe.
Frankreich 2019 – Reiseroute nach Übernachtungsorten
Das Meer in der Eifel – die Maare
Das Thema Geologie und Erdgeschichte lässt uns offenbar nicht los. Ziemlich zu-fällig haben wir auf unserer Heimreise aus Belgien die Vulkan-Eifel als Zwischenstopp ausgewählt; Vulkan-Eifel tönt ja bereits ein wenig abenteuerlich. Und wie: ein Stellplatz mit 1a-Aussicht auf die Hügellandschaft der Eifel, und dabei stehen wir auf einem Kraterrand. Ja, hinter uns geht es rund 20 Meter in die Tiefe. Nach dem Abstieg durch einen lichten Buchenwald steht man vor einem praktisch kreisrunden See, dem Pulvermaar. Aus der Vogelperspektive muss dies wie ein „Auge der Eifel“ erscheinen. Und das Beste in diesen heissen Tagen ist, dass der klare blaue Maarsee auch zum Bade lädt. Wunderbar.
„Das Meer in der Eifel – die Maare“ weiterlesenIm Garten – Therapieort für Menschen mit Helfersyndrom
In Belgien führt uns ein Workaway-Einsatz auf ein ganz besonderes Stück Land. Während belgische Einfamilienhausquartiere zumeist von geometrisch klaren und adretten Vorgärten umgeben sind, treffen wir hier auf ein speziell grünes Biotop: Der frühere Landwirtschaftsbetrieb wurde die letzten 25 Jahre über als B&B und als Ort für Familienferien betrieben, in einem kreativen, einfachen und wirklich familiären Rahmen. Der Besitzer und unser Gastgeber ist sich bewusst, dass seine Art des Gärtnerns polarisiere: die Einen treten hier in ein „grünes Paradies“, für Andere sei es eine „grüne Hölle“ oder zumindest ein chaotischer Urwald.
Tatsächlich fühlen auch wir uns herausgefordert, das Terrain ist riesig und die Natur hat hier das Wort: Feigenbäume, Brombeeren, Johannisbeeren, Kiwis und Kiwi-Beeren, Brennnesseln, Nachtkerzen, Schöllkraut, Wermut, Schilf, Weiden, Erlen, Obstbäume …. Vieles wächst dort wo es will. Von welchen Prinzipien er sich den leiten lasse, wollte ich von unserem Host wissen. Bio-Landbau? Ja, teilweise, jedenfalls verwende er keine Düngemittel, Herbizide etc.. Permakultur? Ja, nein, nicht konsequent, aber schon in diese Richtung. Jedenfalls sei ihm jedes Grün bedeutend lieber als ein „nackter Boden“. Gemulcht wird nicht aktiv, hingegen werde jede Pflanze die er ausgerissen hat am selben Ort liegengelassen, damit sei der Boden gleich wieder bedeckt. Lazy Gardening vielleicht? Ja, teilweise. Ein grosses Glashaus, verschiedene Tunnels, ein Gemüsegarten lassen sich ausmachen. Und unübersehbar ist die Vorliebe des Besitzers, hier im flandrischen Flachland Wein anzubauen und selbst Wein zu keltern. Die Weinstöcke geniessen hier wohl einen Sonder-Status. Dazu grosse Gemüsebeete mit zumeist selbstgezogenen Setzlingen. Und zwischen Allem tummeln sich zahlreiche Hühner, die den Boden bearbeiten; Schafe, ein Pferd und zwei Katzen mit Jungen. In einem alten Campingwagen zwei Bienenstöcke. Tag und Nacht ein immenses Vogel-Gezwitscher. Viele Schmetterlinge, Käfer …. und Abends auch Mücken; die zahlreichen Feuchtstellen und Klärweiher bieten das entsprechende Milieu.
Die scheinbar grenzenlose Toleranz der Natur gegenüber ist wohl im Wesen des Gärtners angelegt. „Es ist was es ist“ heisst es im Gedicht von Erich Fried; „es ist wie es ist“ sagt diese emotionsfreie Akzeptanz. Als Workawayer fühlen wir uns ebenso herzlich willkommen und akzeptiert. Wir haben ein eigenes Gartenhaus mit Zimmer, Aufenthaltsraum und Dusche/WC. Wir sind DA. Das ist aber auch schon alles. Wir versuchen, den „roten bzw. grünen Faden“ zu entdecken, die beabsichtigte Ordnung zu verstehen … und unseren Teil zu leisten, um in diesem grünen Durcheinander etwas Übersicht entstehen zu lassen, um den gewünschten Pflanzen optimale Wachstumsbedingungen zu ermöglichen. Wir arbeiten viel und schwitzen stark – bei zeitweise sehr heissem Wetter. Durch Dornengebüsch, Schilf- und Pestwurz-Dickicht und wucherndes Grün gilt es, die darunterliegenden Wege wieder sicht- und begehbar zu machen. Mähen, Jäten, an den Weinstöcken die Triebe ausbrechen. Wir ertappen uns dabei, wie wir nach getaner Arbeit eine Anerkennung, ein Dankeschön, eine Bestätigung oder ein Echo erwarten. Hier erhalten wir die Chance, unseren Einsatz um seiner selbst Willen zu leisten, unabhängig von Lob oder Tadel, gut oder schlecht. Die grüne Oase steht uns zur Verfügung, das reicht doch schon!?!
Interessante Tischgespräche, ein spannender Austausch zur Haltung des Gärtnerns. Eine klare und „schlüssige“ Konzeption ist aber nicht zu erwarten; seine ganz eigene Art ist Programm. In meinem Drang „zu verstehen“, „den Sinn zu erkennen“ und „Überblick zu gewinnen“, laufe ich da ziemlich ins Leere, fühle mich herausgefordert und erhalte viel Stoff zur hinterfragenden Selbst-Reflexion. Unserem Host geht es nicht anders: wenn Du den Garten übernehmen würdest, dann sähe er wohl in wenigen Monaten ganz anders aus, meint er lakonisch. Ja und nein; ich empfinde sehr viel Sympathie für die kreative und durch die Natur gegebene Atmosphäre, ich würde aber bestimmt stärker „ordnend“ eingreifen, bewusste Zonen definieren und eine wesentlich „geplantere“ Vielfalt anstreben. Ich würde wohl eher der bewusst beobachtenden und klar reflektierenden Haltung der Permakultur folgen und „geplant“ Kreisläufe ermöglichen.
Bei knapp zweiwöchigem Aufenthalt liegt es nicht an mir, tiefschürfende Fragen zu stellen. Vielmehr übe ich mich meinerseits in Akzeptanz. So überrascht mich jedenfalls, dass ich bereits nach 10 Tagen eine gewisse Vertrautheit entwickelt hatte, dass „Dreck“ und „Durcheinander“ an Appell-Charakter verloren hatten und dass ich meinen Ordnungswillen ein wenig in Zaum halten konnte.
Es bleiben aber durchaus noch offene Fragen und das ist auch gut so.
(Wird hier das Potenzial des Gartens bewusst nicht ausgeschöpft? Wo liegt die Grenze zwischen naturnah gärtnern und Unordnung/Chaos? Ist „Aufräumen“ eine Kompetenz oder geht das wider die Natur? …. und Einige mehr)
Zwei Tage später schickt uns Lukas eine Foto aus unserem eigenen „antiautoritären Garten“, der in diesen Monaten tatsächlich nach eigenem Gusto sich entfalten konnte. Wir sind ja gespannt auf die Heimkehr. Lukas lieferte denn auch gleich noch einen Link dazu: „der antiautoritäre Garten“ ist ein Buch im Kosmos-Verlag. Die Autorin Simone Kern hat sich als Garten- und Landschaftsarchitektin gefragt, wie angesichts der Klimaveränderung eine angemessene Gartenpraxis aussehen könnte. Da bin ich ja gespannt auf dieses Konzept.
Bilder aus dem Garten
Gent – eine Stadt pulsiert
Während unseres Workaway-Einsatzes in Belgien verbringen wir ein Wochenende in Gent. Beim Yacht- und Ruderclub finden wir einen passenden kostenlosen Stellplatz; von da aus ist man in rund 30 Minuten zu Fuss in der Innenstadt (mit Google-Maps als Führerin). Diese langsame Art der Annäherung passt uns ganz gut, so kriegen wir bereits etwas mit vom „normalen Leben“ in dieser Universitätsstadt. Unübersehbar die vielen Studenten, jungen Menschen, Kinder, Mütter und Väter mit Cargo-Bikes – voller Gepäck, Marktgemüse und kleiner Knirpse. Aber auch ältere Menschen mit Rollatoren oder Hündchen, im Gespräch auf der Gasse; die Stadt macht uns von Beginn weg einen lebhaften, geselligen und relaxten Eindruck. Und dann die vielen kreativen Fassaden, die liebevollen Details an den Hauseingängen, die sichtbare Liebe für Flohmärkte und gebrauchte Artikel: aus Tasse und Unterteller etwa wurde ein persönlicher Vogel-Futterplatz über dem Türeingang.
Viele junge Restaurants, viele Lokale mit (ausschliesslich) vegetarischem Angebot, viele Tischchen auf der Strasse. Einige Lokale werben mit Foodsharing, meinen damit aber offensichtlich nicht das kostenlose Teilen von Mitgebrachtem oder das kostengünstige Gericht aus Lebensmitteln, die vor dem Ablaufdatum stehen. Hier meint Foodsharing, dass an einem grossen Gemeinschafts-Tisch gegessen wird und dass es zum Konzept gehört, voneinander bzw. vom Teller der Nachbarn zu probieren.
Das touristische Gent ist bunt, laut und voll wie in vielen anderen Städten auch. Die gemütlichen Hausfassaden, das verwinkelte Stadtbild und die zahlreichen Kanäle lassen aber eine besonders heimelige Stimmung entstehen; mir kommt es zuweilen vor wie in einer grossen übervollen Stube. Und das allgegenwärtige Wasser lässt einen unweigerlich an Venedig denken, nur kleiner, überschaubarer … und schöner.
Die malerischen Winkel, die vielen geschichtsträchtigen Gebäude und die gemütlichen Bierlokale lohnen einen Rundgang auf jeden Fall. Wenn der Besuch – wie bei uns – auf einen schönen Vorsommer-Samstag fällt, dann ist es besonders lebhaft. So schätzen wir es, am vergleichsweise stillen Sonntagvormittag ein zweites Mal durch die relativ leeren Gassen zu schlendern. Diesmal nähern wir uns von Süden her und besuchen vor allem jene Punkte, die am Rande der historischen Altstadt oder gar etwas ausserhalb liegen. Hier glauben wir, dem gewöhnlichen und wirklichen Gent zu begegnen: Flohmarkt entlang einer alten und mit endlosen Graffitis besprayten Klostermauer; Boule-spielende Männer, Spielplätze mit Kinderlachen, junge Leute die in einer Parkanlage ein grosses PicNic vorbereiten, Quartier-Plätze mit Urban-Gardening-Einrichtung, eine Klosterruine als interkultureller Begegnungs- und Konzertort, Kanäle mit fest verankerten Wohnschiffen (und auf diesen idyllische Gärtchen, Liegestühle, Hängematten und Tibetfähnchen), ein Bücher-Tauschmarkt, Gartenbeizen. Und zwischen all dem viele Menschen zu Fuss, mit Kinderwagen, mit dem Velo unterwegs. Ein Ort zum Wohlfühlen.
Wenn man von Gent spricht, dann ist der Ausdruck der „Gentrifizierung“ nicht weit. Ich wollte das mal genauer wissen und fragte bei Wikipedia nach: Als Gentrifizierung (von engl. gentry „niederer Adel“), auch Gentrifikation, im Jargon auch Yuppisierung, bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter als vorher und deren anschließenden Zuzug. Aus <https://de.wikipedia.org/wiki/Gentrifizierung>
Gentrifizierung hat also etymologisch gesehen nichts mit der Stadt Gent zu tun, was nicht heissen will, dass diese Stadt davor gefeit wäre. Die erfolgreiche Modernisierung und Vitalisierung einer Stadt bringt wohl zwangsläufig solche marktliberale Tendenzen mit sich. Der hohe Anteil an Studenten und studentisch geprägten jungen Familien mag dem vielleicht ein wenig entgegen wirken. Hoffentlich.
Gent in Bildern

neu: Biblio-Mediathek und Begegnungszentrum
Strassenszene 1 – Bank aus Pfannen Strassenszene 2 – Poesie Strassenszene 3 – Musik Strassenszene 4 – lekker doppelte Fassade
Fassaden-Stilleben 1 Fassaden-Stilleben 2 Fassaden-Stilleben 3 still leben 1 still leben 2 Re-cycling-Stadt Gent??
Wandelbar: erst Kirche, dann Bibliothek … … Holy Food Market für (Vegi-) Gerichte aus aller Welt
heute Musik- und Szenelokal
Graffitis als ideale Kulisse … für den Flohmarkt im Sint Peters-Quartier liebste Sonntagmorgen-Beschäftigung vieler Genterinnen und Genter
Wochen 13 und 14 / 17.-29.Juni
Unsere ersten Eindrücke in Belgien: eine weite und flache Landschaft, ideal zum Velofahren; freundlich grüssende Menschen mit zuvorkommender Sympathie gegenüber RadfahrerInnen. Aber auch Schnellstrassen mit hektischem Verkehr, abenteuerlichen Abzweigungen – Kreisverkehr scheint hier noch wenig verbreitet zu sein – und dichtem Lastwagenverkehr auch an Wochenenden. Auf dem Land rumpelt es zuweilen noch beträchtlich auf Abschnitten mit Betonplatten-Strassen oder gar mit rustikalem Kopfsteinpflaster. Dann die vielen Einfamilienhäuschen mit den akkurat gepflegten Vorgärten, die Rasenflächen mit Bürstenschnitt, farblich sortierte Blumen in Reih und Glied und Gartenzwerge die stramm stehen. Ausgewanderte Schweizer? Viele kleinere Dörfer und Wohnsiedlungen wirken etwas ausgestorben, wenn auch sehr gepflegt.
Unser Workaway-Einsatzort stellt demgegenüber ein absolutes Kontrastprogramm dar. Der ehemalige Bauernhof wurde die letzten 25 Jahre über als Bed&Breakfast und Ferienort für Familien betrieben, ein sehr vielfältiger Lebensraum für Menschen, Pflanzen und Tiere. Je nach Standpunkt ein paradiesischer Ort, ein Garten Eden, ein Abenteuer-Spielplatz, ein Urwald oder ein unübersichtliches Durcheinander. Das meernahe und doch warme Klima begünstigt ein üppiges Wachstum; da ist es eine ständige Herausforderung, die Balance zwischen Natur und Kultur zu schaffen bzw. naturnah zu Gärtnern ohne zu verwildern. Die gewährende (passive?) Haltung gegenüber allem was Früchte trägt oder tragen könnte hat etwas Grosszügiges und Einladendes; der Tagesablauf ist von Gelassenheit und Ruhe geprägt. Jedoch fiel es uns zuweilen nicht leicht, darin den „roten (oder besser grünen?) Faden“ zu sehen bzw. die gestaltende Absicht zu erkennen und die ordnende Hand zurückzuhalten. Viele Impulse zur Selbst-Reflexion jedenfalls .
Welches Leitbild des Gärtners gilt bzw. trägt wohl? Sagt die Gärtnerin den Pflanzen, wo’s durchgehen soll bzw. was wo wachsen darf …. oder ist es vielmehr der Gärtner, der sich dem Wachstumswillen der Pflanzen unterzuordnen hat und höchstenfalls kluge und minimale Eingriffe vornimmt? Eine einfache und allgemeingültige Antwort darauf gibt es wohl nicht. Beide Positionen scheinen situativ angemessen …. und können – absolut verstanden – in Erstarrung oder Chaos führen.
Auch in Belgien kann es sehr heiss sein: während die Durchschnitts-Klimatabelle für den Monat Juni von 21 Grad sprach, vermelden die Meteodienste derzeit zwischen 28 und 35 Grad. Tatsächlich aussergewöhnlich. Zum Glück kennt Belgien eine hochstehende Bierkultur: wir können unzählige Abtei-Biere in allerlei Varianten ausprobieren.
Ein Fahrrad-Ausflug nach Brügge lässt uns eine malerische Stadt mit vielen Kanälen – und Touristen – entdecken. Für Museen ist es zu warm, das Flair in den Gassen ist aber alleweil sehenswert und dem Auge bzw. der Kameralinse bieten sich viele schöne Blickwinkel an.
Am Wochenende steuern wir frühzeitig den Stellplatz beim Yacht- und Kanuklub in Gent an. Diese ebenso malerische, quirlige und bunte Stadt begeistert uns. Man spürt allenthalben die Kreativität und Experimentierfreude in dieser studentisch geprägten Universitätsstadt. Unzählige Plätzchen und Winkel um sich aufzuhalten, auszutauschen, zu sinnieren und flanieren. Gent hat den Donnerstag zum städtischen Vegi-Tag erklärt und sich damit zur Vegi-Hauptstadt Europas gekürt. Eine gute Sache, die – wenn aus Sicht der katholischen Tradition überhaupt nicht neu und bloss einen Tag vorverschoben – offenbar das nötige Sex-Appeal hat und einen unerhörten Marketing-Effekt erzielt. Sympathisch allemal, dass es hier so viele kleine, kreative und persönlich geprägte Vegi-Restaurants gibt. Während wir am Samstag inmitten unzähliger Touristen die malerischen Gassen und Kanäle abschreiten und wirklich originelle Gebäude sehen, bietet der Sonntag dann ein authentisches Gent in den Aussenquartieren: Flohmarkt, Quartierbeizen, eine Musik-Veranstaltung des städtischen Integrationsbüros mit Migranten – und in den Ruinen der Sint-Baafs-Abtei erleben wir dann ganz zufällig noch ein aussergewöhnliches Konzert aserbeidschanischer Musiker: die Botschaft Aserbeidschans hat offenbar etwas zu feiern und gibt deshalb für Landsleute und Bevölkerung dieses Konzert. Wieder mal so ein besonderer Zu-Fall.
In der zweiten Woche arbeiten wir wiederum morgens unsere 4-5 Stunden im Garten: Triebe ausbrechen bei den Weinreben (ja, die gibt es hier, sowohl im Tunnel als auch im Aussengelände), Beeren ablesen, Jäten; und Christoph ist wieder beschäftigt mit Mähen und mit dem Ausroden unzähliger Quadratmeter Dickicht zwischen Feigenbäumen, Reben, Beeren und Hühnerstall; das lässt zuweilen an Sysiphus denken. Spätnachmittags folgen dann kleine Ausflüge, etwa in die holländische Polderlandschaft an der Wester-Schelde. Hier ziehen im Abenddunst unzählige Frachter, Fähren und andere Riesenschiffe vorbei, die meisten mit dem Ziel zum Hochseehafen Antwerpen oder ins Industriegebiet von Gent.
Ein anderer Ausflug führt in das Naturschutzgebiet ZWIN; ehemaliger Luftwaffen-Flugplatz der deutschen Besatzer und Waffen-Standort im Atlantik-Wall während des zweiten Weltkriegs. Heute ein grosszügiges Naturschutzgebiet, ein moderner digitalisierter Ausstellungsort (dank Webcam und Virtual Reality müssen die Schüler nicht mehr unbedingt nach draussen in die Natur, um Beobachtungen zu machen … ???) und die Lagune bzw. Polderlandschaft ist zweifellos ein beliebtes Ferien- und Durchreise-Ziel für Vögel. Hier gibt es die wenigen Kilometer natürlicher Strand an der ansonsten weitgehend verbauten belgischen Küste. Das sei anscheinend nachvollziehbar, wenn man bedenke, dass ein ganzes Land mit 92 km Küstenlinie auskommen muss. Was soll da die Schweiz dazu sagen …?
Bei feinem Essen aus dem eigenen Garten und selbstgekeltertem Wein ergeben sich mehrere interessante Tischgespräche mit unserer Gastfamilie. Die Gespräche über Ökologie, Reisen, Politik etc. lassen auch noch andere Dimensionen von Belgien erahnen: das Land schlägt einen neuen Rekord mit mittlerweile 557 Tagen ohne gewählter Regierung. Die politischen Lager und damit auch die Gräben zwischen Wallonien (fanzösischsprechender Süden) und Flandern (flämisch/holländisch sprechender Westen und Norden) und deutsch sprechender Minderheit im Osten scheinen derzeit besonders tief und werden durch die (symbolische) Monarchie bloss noch notdürftig zusammenghalten. Das Völkergemisch in diesem „Scharnier-Staat“ scheint mit latenten Konflikten zwischen „reichem Norden“ und „armem Süden“ ständig beschäftigt zu sein. Nicht gerade eine Vorbildfunktion für das von Interessenkonflikten gebeutelte Europa – trotz EU-Sitz.