Gedanken bei der Arbeit (bzw. beim Tätigsein)

Renata hat die Gartenbeete und Kieswege vor dem Schloss gejätet. Und ich (Christoph) hatte derweil mehrere hundert Meter Alleebäume und Hecken mit der Motorsense ausgemäht. Das füllte die vier vergangenen Tage komplett (zumindest wenn man diese Arbeiten mit der hierzulande legendären Schweizer Gründlichkeit ausführt). Die Arbeit geht zuweilen in den Rücken; draussen zu arbeiten, mit Natur und Erde in Kontakt zu sein und am Ende des Tages zu sehen, was man geleistet hat, macht aber eindeutig Spass.

Bloss, wenn ich den Eingang um den in den Kalkfelsen gehauenen Weinkeller ausmähen soll, und mir der Kellermeister erklärt „heute sei er der Chef!“, dann sträubt sich (immer noch) etwas in mir. Sei’s denn, aber ich arbeite ja grundsätzlich freiwillig, bestimme selbst und brauche definitiv keinen Chef. „la vie est un piège“, das Leben ist eine Falle …. philosophiert er sogleich, und tatsächlich hat er mich damit an einem wunden Punkt erwischt.
Ich möchte grundsätzlich mit einem „copain“ freundschaftlich zusammenarbeiten, kann mich selbst motivieren (wenn mir das gemeinsame Ziel einleuchtet) und möchte mein eigener Herr und Meister sein und bleiben.

Das führt mich in dieser Ambiance mit aristokratischer Geschichte unweigerlich zur Erinnerung an Madame deMeuron, die legendäre Berner Patrizierin. Ihre berühmte Anrede „Syt der öpper oder nämet der Lohn?“ („Sind Sie jemand, oder beziehen Sie Lohn?“) ist da sehr vielsagend. Existenzrecht und Würde scheint (war) den Einen per Geburt gegeben, die andern mussten ihre Existenzberechtigung mit Lohnarbeit abverdienen.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr scheint mir dies eine verkappte oder moderne Form der Sklaverei zu beschreiben. Ja, wie oft ist die Angst um Einkommen und Existenzsicherung der Grund, weshalb auch an sich ungeliebte oder nicht wirklich überzeugende Arbeiten ausgeführt werden, häufig verbunden mit stillem Groll und einem Klumpen im Bauch.

Einmal mehr meine ich, dass menschliche Würde eigentlich automatisch und per Geburt gegeben ist. (vgl. etwa die Würdekompass-Gruppen, die auf Initiative von Gerald Hüther am Entstehen sind). Daraus folgt das Recht auf Existenzsicherung (bedingungsloses Grundeinkommen) und das Recht eines jeden Menschen, seine Kreativtät, seine Arbeitskraft und seinen Idealismus grundsätzlich freiwillig einzusetzen. Das ist (oder wäre) dann gemeinsames Arbeiten auf Augenhöhe, Soziokratie oder wie man dem auch immer sagen will. Ein dickes Plädoyer für die Freiwilligkeit.

Die bereits erwähnte Madame deMeuron sah dies pragmatisch(er): „Im Himmel sy mir alli glych, aber hie uf Ärde herrscht Ordnig.“ („Im Himmel sind wir alle gleich, aber hier auf Erden herrscht Ordnung.“). Das mag zu ihrer Zeit und aus ihrer Perspektive ja so gewesen sein; zum Glück aber sind wir wieder einige Jahrzehnte weiter in der gesellschaftlichen Entwicklung!

Im Lande der (R)evolution

Vielleicht kommt es doch nicht ganz von ungefähr, dass wir uns vor vier Jahren beim Kauf unseres Camping-Cars für den „Globecar (R)Evolution“ entschieden hatten. Tatsächlich hat der Name schon damals bei mir alte Sympathien hervorgerufen. Eine gewisse Faszination für alles Unkonventionelle hat mich schon immer begleitet. Kommt dazu, dass in diesem Begriff nicht nur von der (oft negativ konnotierten und oft mit Gewalt verbundenen) Revolution die Rede ist, sondern auch gleichzeitig von der Evolution, der immerwährenden und notwendigen Entwicklung (oder Ent-wicklung). Alles ist Bewegung, alles ist Veränderung – und so gesehen ist alles in Entwicklung, auch wenn manchmal vermeintliche Rückschritte augenfällig sind.

Heute – beim Ausmähen der rund dreihundert Meter langen Kastanien-Allee des Schloss-Weingutes – gingen mir viele Gedanken durch den Kopf; einige davon haben mir wohl einen neuen Zugang zu den Grundsätzen der französischen Revolution verschafft.

Liberté – Egalité – Fraternité

Die Gleichheit (égalité) setze ich nun einfach mal voraus. Ob Weinbauer, Schlossbesitzer oder freiwilliger Workawayer, wir alle haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Lebenswege, Erfahrungen und Lebens-Aufgaben. Oft wissen wir gar nicht, welche davon sich hinter dem Gesicht eines Gegenübers verbergen. Gleichheit und Gleichwertigkeit gilt für mich einfach ganz grundsätzlich.

Die Brüderlichkeit (fraternité) und sinngemäss natürlich die Geschwisterlichkeit leben wir konkret mit unserem Workaway-Einsatz: etwas Zeit verschenken, in andere Lebenswelten eintauchen und ganz praktisch mit anpacken. Derzeit gibt es ja gerade wieder einige neurobiologische Studien und Filme, die die These untermauern, dass Menschen grundsätzlich auf Altruismus gepolt seien. Ja tatsächlich, es macht Spass, etwas Sinnvolles (Not-wendiges) zu tun, irgendwo mitzuwirken und dabei zu spüren, dass der eigene Einsatz geschätzt wird und jemandem tatsächlich Freude bereitet.

Und über all dem die Freiheit (liberté), in meinem Fall die grandiose und unermesslich wertvolle Freiheit, einfach das zu tun was Spass macht, mich dort einzusetzen wo ich unmittelbar Sinn stiften kann …. und mich auch zu verabschieden, wenn mir diese zentralen Bedingungen meiner selbst nicht mehr gegeben scheinen. Wer Zeit und Arbeit verschenken kann, ist tatsächlich „sein eigener Herr und Meister“.

Ob solcher Gedanken kommt mein Idealismus bereits wieder in Fahrt; wann wohl kommt es in der Schweiz zu einer zweiten Abstimmung über das „bedingungslose Grundeinkommen“? Ich meine zu erahnen, dass dies eine zentrale Grundlage von „Liberté – Egalité – Fraternité“ und damit tatsächlich (r)evolutionär sein könnte.

Woche 5 / (18.) 22. April bis 28. April 2019

In St.Germain-sur-Vienne werden wir auf dem Schloss-Weingut „Château du petit Thouars“ erwartet (Link führt zur Bilder-Galerie). Schon die Zufahrt ist ein Eintauchen in eine neue Welt, der Kiesweg führt von der Strasse weg, durch die Kastanien-Allee in dichtes Grün. Nach einigen Kurven taucht ein prächtiges Kalkstein-Gebäude auf, welches eine grosse Lichtung überragt. Soweit das Auge reicht bloss Wald in den zartesten Farbnuancen des beginnenden Frühlings: hellgrün, dunkelgrün, graugrün, gelblich, grün mit leichtem Braunton, eine schier grenzenlose Palette. Ebenso beeindruckend das dichte Gewirr unzähliger Vogelstimmen. Noch am ersten Abend beobachten wir aus dem Zimmerfenster Feldhasen und eine Fasanen-Familie (Vater, Mutter und zwei Töchter), die hier ganz offensichtlich heimisch sind. Der Fasan wehrt mit seinem durchdringenden hustenähnlichen Krächzen ab und zu ein paar aufdringliche Krähen ab.

Die junge Familie, die dieses Schloss bewohnt, empfängt uns herzlich und völlig offen. Wir können unser Zimmer im ehemaligen Bediensteten-Haus gleich nebenan beziehen. Unübersehbar, dass uns hier eine von Improvisation und Spontaneität geprägte Welt erwartet. Zwei junge Frauen aus Deutschland, eine Workawayerin und eine 23-jährige Studentin, die als AuPair für die Kinderbetreuung zuständig ist, sind seit Anfang April hier und geben uns eine erste Einführung in die Gepflogenheiten. Gekocht wird vom Chef des Hauses persönlich, man wisse aber nie so genau, wann dies der Fall sein wird: auf jeden Fall sollte man sich darauf einstellen, dass das Abendessen nicht vor 21 Uhr beginne … das Mittagessen wohl frühestens um 13.30 Uhr und das Frühstück … na ja. Arbeitsbeginn sei jedenfalls nie vor 9.30 des nächsten Morgens.

Überraschend ist für uns dann das erste Diner: es dauerte von ca. 21.30 bis ca. 23.30 Uhr. Am Tisch sind auch zwei Freunde des Hauses, ein englischer Parlamentarier (Tory, erklärter Freund Frankreichs und Brexit-Gegner) und seine Verlobte, ihres Zeichens Direktorin des königlichen Shakespeare-Theaters in London. Wir sitzen an einem riesigen ovalen Esstisch, in einem alt-ehrwürdigen Esszimmer in Eichen-Furnier-Ausstattung, umgeben von lauter opulenten Ölgemälden (14 Repliken des Medici-Zyklus von P.P.Rubens, deren Originale im Louvre in Paris hangen) an den Wänden. Das Haus atmet mehrere hundert Jahre adliger Familiengeschichte. Nachdem die Eltern gestorben sind, hat das junge franko-kanadische Paar mit den zwei (bald drei) kleinen Kindern das Anwesen übernommen: wohl Lust und Last zugleich. Das mondäne Leben in Paris gegen ein Landleben in (aristokratischer) Natur-Idylle am Rande der (Welt) Vienne einzutauschen ist wohl nicht ganz ohne.

Nun, die Weltoffenheit scheint nicht abhanden gekommen zu sein; am Tisch wird bunt durcheinander englisch-französisch und deutsch gesprochen. Die Themen wechseln zwischen Essen, HipHop,  britischer Politik, Musik und altehrwürdiger Familiengeschichte. Und auch die Tatsache, dass hier regelmässig AuPair’s und WorkawayerInnen mit am Tisch sitzen, zeugt von Offenheit und Vertrauen.

Nach ersehnter und später Nachtruhe sind wir den ganzen Freitag über eifrig im Einsatz: Rasenmähen, Putzen, Einrichten, Aufräumen. Zusammen mit dem Kellermeister (maitre de chai) Michel und seinem Gehilfen Philippe beteiligen wir uns an den letzten Arbeiten vor dem Tag der offenen Tür. Damit entsteht in kürzester Zeit ein solidarischer Boden, eine gemeinsame Vertrautheit.

Als am Samstag die ersten Aussteller anreisen, gehören wir schon richtig dazu. Guy, der Fouée-Bäcker bereitet Unmengen von Teig, die er während der drei Tage am Holzofen verbacken wird. Fouées sind kleine Teig-Rondellen, die sich im Holzofen in kürzester Zeit aufblähen: aufgeschnitten und gefüllt ergibt sich daraus ein wunderbares Häppchen in zig Varianten: mit Blutwurst, Kräuterkäse, Ziegenkäse, Nutella, Crème Caramal salé, Aprikosen-Konfitüre und vielem mehr lässt sich diese landestypische Spezialität füllen. François, der pensionierte Patissier (Président de la Tour de France des Patissiers) wird während der drei Tage seinen Stand mit Schokolade-Spezialitätern betreuen und vor dem Publikum allerlei Formen giessen. Jean-François, der pensionierte Mitarbeiter der benachbarten „centrale nucleaire EDF“ (Atomkraftwerk) ist heute passionierter Bienenzüchter. Er vermittelt sein breites Wissen über die Welt der Bienen – und verkauft dabei seinen eigenen Honig und ein schmackhaftes „pain d’épices“. Guy, der Steinmetz, sitzt mit verschmitzt lachender Miene vor dem Gewölbekeller an seinem Steinmetz-Tisch und verarbeitet mit Klöppel und Meissel den weichen weissen Tuff-Kalkstein der Gegend. Véronique bietet ihren einzigartigen Ziegenkäse aus der Region an und Brian, der Kleinbrauer mit englischen Wurzeln, bietet ein ausgezeichnetes bitter-hopfiges Dunkles zum Verkauf an. Michel, der Kellermeister (und Strippenzieher des Tages), hat ein ausgedientes Weinfass so ausgeschnitten und hergerichtet, dass es als Räucherkammer taugt. Darin werden zwei Schweins-Medaillons vor Ort geräuchert. Ein altes aufgeschnittenes Ölfass dient als Barbecue-Grill. Michel – er selbst kein Kost-Verächter – ist sehr darauf bedacht, dass alle Aussteller und Helfer ein gebührendes Mittagessen erhalten. Das wird sich an allen drei Tagen (der offenen Tür) als Zentrum und Kristallisationspunkt erweisen: die herzliche Atmosphäre, die gegenseitige Hilfsbereitschaft, das humorvolle Miteinander und das fach- und landes-übergreifende Interesse finden hier ihre Mitte. Wir fühlen uns bestens aufgehoben und akzeptiert in dieser fröhlichen Runde.

Renata engagierte sich durch all diese Tage hindurch im „Backoffice“, im Nachschub sauberer Weingläser wie auch in der fürsorglichen Unterstützung der Mitarbeitenden mit Kaffee. Christoph war verantwortlich für Paketierung und Auslieferung der Weine. Drei Tage der Wein-Degustation im originellen Gewölbekeller, von Ostersamstag bis Ostermontag ein Kommen und Gehen, Touristen, Einheimische, Nachbarn, Freunde: eine quirlige bunte Welt mit zahlreichen Oster-Überraschungen.

Am Dienstag ging dann der Alltag los. Renata war hauptsächlich am Jäten im Blumenbeet vor der Schloss-Fassade und Christoph war derweil mit der Motorsense unterwegs. Es galt die Strassenränder zu mähen, zwischen Rosen und Bäumen auszumähen, das Wegbord zu roden etc..


Augenfällig geht es hier (für uns einmal mehr ;-)) um das Spannungsfeld zwischen SEIN und SCHEIN. Viel Energie soll darauf verwendet werden, den Gästen des Schlosses bzw. des Weinkellers einen aufgeräumten ersten Eindruck zu vermitteln …. während beim zweiten Blick in Küche, Büro und hinter die Fassade das „ganz normale Chaos“ sichtbar wird. Na ja, unsere Themen (hat da jemand „Perfektionismus“ gesagt??) holen uns immer wieder ein. Für uns (als SchweizerIn?) ganz offensichtlich ein riesiges Übungsfeld in Toleranz und Grosszügigkeit. Schliesslich wird vieles aufgewogen durch grosse Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Offenheit; dies alles verbunden mit unzähligen Sprüchen, hintersinnigen „jeu de mot’s“ (Wortspielen) und purer Lebensfreude.

Es sei nicht verschwiegen, dass wir jeden Abend ausgezeichnet essen und sämtliche Weine des eigenen Kellers grosszügig ausprobieren können. Auf die Frage, ob er mal eine Ausbildung als Viticulteur oder Sommelier genossen habe, antwortet der Patron eindeutig: es gehe alles über die eigene Erfahrung, soviel wie möglich ausprobieren, von allerlei Weinen kosten, Länder und Produktionsweisen vergleichen, zuhören … und neugierig weitere Erfahrungen sammeln.

Die Tage unserer Ankunft auf dem Schloss-Weingut sind teilweise noch geprägt von der Brand-Katastrophe in der Notre-Dame von Paris. Respektvolle Bemerkungen … aber auch Witz und zuweilen gar Sarkasmus sind spürbar. Die Menschen um uns wirken jedenfalls nicht schockiert oder besonders betrübt. Das Leben scheint weiter zu gehen….

Uns drängt sich dabei immer wieder die Frage auf, wie denn heutzutage mit „Zeugen der Geschichte“ umzugehen sei. Von wann bis wann gilt etwas als Geschichte? Wann ist der Zeitpunkt bzw. was ist der Grund, dass gewisse Dinge und Zustände richtiggehend eingefroren werden (sollen)? Gehört nicht manchmal auch eine (teilweise) Zerstörung essentiell zur Geschichte? Weshalb besuchen Touristen am einen Ort Ruinen (z.B. die Akropolis von Athen), während andernorts möglichst naturgetreue Repliken als Touristenmagnet herhalten müssen? Weshalb ist der Erhalt oder Wiederaufbau von Nationalsymbolen wichtiger als die soziale Wohlfahrt aller BürgerInnen?

Es mag Fragen geben, die nicht (sofort) beantwortet werden müssen.

Tomorrow – die Welt ist voller Lösungen

Genug der zahllosen Schreckens-Meldungen, die bloss unsere Ohnmacht verstärken. Genug der Katastrophen-Berichte und Umweltskandale, nach deren Kenntnisnahme „Otto Normalverbraucher“ wieder zur Tagesordnung übergeht. Mich stimmt sehr hoffnungsvoll, dass zahlreiche junge Menschen den Ernst der Lage erkennen und sich betreffen lassen. Und dass zahlreiche Menschen ihre Prioritäten neu justieren: Zeit statt Geld, Rücksichtnahme statt „über den Tisch ziehen“, Teilen statt Besitzen. Es ist Zeit, den destruktiven Mechanismen des kapitalistischen Ein-Wert-Prinzips (Profit über Alles) wieder menschliche Werte und Würde entgegenzustellen.

Tomorrow- die Welt ist voller Lösungen (Frankreich 2015, zu Website und Trailer)
Als die Schauspielerin Mélanie Laurent („Inglourious Basterds“, „Beginners“) und der französische Aktivist Cyril Dion in der Zeitschrift „Nature“ eine Studie lesen, die den wahrscheinlichen Zusammenbruch unserer Zivilisation in den nächsten 40 Jahren voraussagt, wollen sie sich mit diesem Horror-Szenario nicht abfinden. Schnell ist ihnen jedoch klar, dass die bestehenden Ansätze nicht ausreichen, um einen breiten Teil der Bevölkerung zu inspirieren und zum Handeln zu bewegen. Also machen sich die beiden auf den Weg. Sie sprechen mit Experten und besuchen weltweit Projekte und Initiativen, die alternative ökologische, wirtschaftliche und demokratische Ideen verfolgen. Was sie finden, sind Antworten auf die dringendsten Fragen unserer Zeit. Und die Gewissheit, dass es eine andere Geschichte für unsere Zukunft geben kann.

Ein absolut sehenswerter, positiver und ermutigender Film.

Just do it …. wie Initiativkraft die Welt verändert

… im Kleinen wie im Grossen.

Es gibt Momente im Leben, die Einen aus der gewohnten Bahn werfen. Es gibt Menschen, die ob solcher Erfahrungen verzweifeln oder gar zerbrechen. Und es gibt die Anderen, die an solchen Ereignissen erstarken, sich auf ihre eigene Würde besinnen, ihre Prioritäten neu ordnen und – „jetzt erst recht“ – anders tätig werden.

Erstaunlich was passiert, wenn einer sein Wohnzimmer öffnet, einige persönliche E-Mails verschickt und zu einem privaten Filmabend lädt, bei dem es um konkrete, tatkräftige und mutige Initiativen für eine nachhaltige Entwicklung unserer Erde geht. Fünfzehn Menschen, die sich bisher nicht kannten, kommen „zu-fällig“ zusammen, bringen ein buntes und sehr schmackhaftes „Teilete-Buffet“ zustande – komplett selbstorganisiert -, teilen ihre Sorgen und Hoffnungen über den Zustand der Welt — und gehen inspiriert und mit neuer Tatkraft nach Hause, in erneutem Bewusst-sein. Und erfüllt von der positiven und ermutigenden Botschaft des absolut sehenswerten Films „Tomorrow – die Welt ist voller Lösungen“.
Just do it. Herzlichen Dank, Christian, für Deine Initiative und Gastfreundschaft.

Geschichtenfänger

In unserem Wohnort Trogen wird im Sommer 2019 unter dem Titel „Das glückselige Leben“ ein eigens kreiertes Freilufttheater aufgeführt. Dieses gründet einerseits auf der speziellen Geschichte und Atmosphäre des Dorfes, anderseits auf dem humanistischen Gedanken und Impulsen, welche vor über 300 Jahren von der hier ansässigen Textilhändler-Dynastie der Zellweger ausging.

Zur Sammlung von Rohmaterial für dieses Freilufttheater, zur Sammlung vielfältigster persönlicher Glücksgeschichten hat Mark Riklin das Geschichtenfänger-Netz ins Leben gerufen. Ich habe mich ebenfalls als „Geschichtenfänger“ einspannen lassen …. und bin gerne bereit, auch Deine Geschichte aufzunehmen. Ein Beitrags-Kommentar oder Mailkontakt genügt.

Die Beispiel-Geschichte, die ich bei einem lieben Freund einfangen durfte:

zweimal Glück gehabt
Th steht als ausgebildeter Forstwart und junger Familienvater auf dem Grundstück seines Bauernhauses, tatendurstig, verantwortungsbewusst und korrekt ausgerüstet. Er arbeitet normalerweise als Praktikant in einem Heim für Menschen mit Behinderung. An diesem freien Tag macht er sich daran, eine Esche zu fällen: Fall-Richtung bestimmen, Fallkerbe setzen, Fällschnitt …. doch dann fällt der Baum in die umgekehrte Richtung. Zum Glück kommt niemand zu Schaden … ausser einer kleinen Telefonleitung, die der Baum mit sich reisst. Th legt die Drähte zur Seite, arbeitet weiter und zerteilt den Baum. Einige Zeit später tauchen Gemeindearbeiter auf, aufgeregt und schreckensbleich. Die 10’000-Volt-Leitung zum nahegelegenen Betonwerk sei unterbrochen und das Betonwerk stehe still. Ob er etwas bemerkt habe? Offenbar ein pures Wunder und ein Riesen-Glück, dass er noch am Leben ist.   Die Leitung wurde repariert und das Betonwerk konnte den Betrieb wieder aufnehmen.   Dass danach eine Schadenersatz-Rechnung über 2500.- ins Haus flattert, ist für Th verständlich und nachvollziehbar. Doch wie sollte er diese bezahlen? Für die junge Familie ist diese Summe astronomisch. So macht er sich auf zum Besitzer des Betonwerks, um sich zu entschuldigen und die Möglichkeit einer Ratenzahlung zu erfragen. „Ja was arbeiten Sie denn?“. Als der Firmeninhaber hört, dass Th in einem Behindertenheim arbeitet, kommt die Aufforderung klar und unvermittelt: „Zerreissen sie die Rechnung und betrachten sie die Sache als erledigt.“ Der Firmeninhaber hat selber einen behinderten Sohn und zeigt damit seine Dankbarkeit für die Arbeit, die in solchen Heimen geleistet wird.    
wann/wo:       ca. 1985 / St.Galler Rheintal
wer:               Forstwart + Sozialpädagoge / männlich / Jahrgang 1957
eingefangen:  Christoph Popp, 30.Dez.2018

Glück ist das Einzige das sich verdoppelt, wenn man es teilt. (Albert Schweitzer)

…. Tue mehr von dem, was gut tut.

Wir schätzen das Privileg unserer derzeitigen Lebensphase, die eigene Lebenszeit nochmals ganz bewusst ausrichten zu können auf jene Werte, Themen, Menschen und Sachen, die uns besonders am Herzen liegen. Und für uns ist klar, dass es hierbei hauptsächlich um immaterielle Werte gehen wird, um solidarisches Handeln, um gegenseitige Unterstützung und Teilen, um Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Mit unserer vorzeitigen Pensionierung nehmen wir zwar materielle Einschränkungen in Kauf, schenken uns aber gleichzeitig die Freiheit zum Experiment: sozusagen eine private Vorwegnahme wie es wäre, mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zu leben. Wir sind gespannt zu erfahren, welche Energien ein solches Experiment freizusetzen vermag.

Leider fand die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens beim Schweizer Volk 2018 noch keinen Anklang. Als isoliertes – wenn auch visionäres – Projekt fehlten wohl tatsächlich noch relevante Rahmenbedingungen. Wenn die Digitalisierung weiter fortschreitet und die Lohnarbeit noch knapper wird, dann sind solche Reformen jedoch dringender denn je. Allerdings wird das wohl gekoppelt sein müssen mit z.B. einem neuen Bodenrecht (welches Bodenbesitz zum Allgemeingut macht, Boden nur im Baurecht weitergibt und ihn damit der Spekulation entzieht), einem Geldschöpfungsrecht, das alleine bei der Nationalbank liegt (Vollgeld-Initiative) und einer Kapitalfluss-Steuer (welche die unsinnige und unethische Akkumulation von Geld ohne Arbeit und damit das neuerliche Auseinanderdriften der Kapitalismus-Schere stoppt). Mehr dazu: Fairconomy – Initiative für eine natürliche Wirtschaftsordnung

Mitmenschen

Ein programatisches Zitat des Dalai Lama hat mich in der Vorbereitung unseres Reiseprojektes besonders beeindruckt. Im Dialog mit Erzbischof Desmond Tutu sagte der Dalai Lama:
„Wenn ich einen Menschen treffe, …. versuche ich immer, mich auf einer grundlegenden menschlichen Ebene auf ihn zu beziehen. Auf dieser Ebene weiss ich, dass der andere genau wie ich sein Glück finden und weniger Probleme und Schwierigkeiten in seinem Leben haben will. Egal, ob ich nur mit einer Person oder vor einer grossen Gruppe spreche, ich betrachte mich immer zuerst als ein weiteres menschliches Wesen unter vielen. Dann ist es nicht einmal nötig, dass ich mich vorstelle. Wenn ich mich dagegen im Umgang mit ihnen als ein anderer sehe – als Buddhist, als Tibeter und so weiter -, baue ich Mauern auf, die mich von ihnen fernhalten. Und wenn ich im Umgang mit ihnen daran denke, dass ich der vierzehnte Dalai Lama bin, schaffe ich die Grundlage für meine eigene Trennung und Einsamkeit. Schliesslich gibt es auf der ganzen Welt nur einen Dalai Lama. Wenn ich mich dagegen primär als Mitmenschen sehe, habe ich mehr als sieben Milliarden Artgenossen,. mit denen ich mich tief verbunden fühlen kann. Und das ist wundervoll, nicht wahr? Was soll uns noch Angst und Sorgen machen, wenn sieben Milliarden Menschen mit uns sind?“
In: Dalai Lama – Desmond Tutu, Das Buch der Freude, Lotos-Verlag 2016
(Red. Douglas Abrams), Seite 115f

Projekt Europa

Ein weiterer Tagblatt-Artikel bespricht das Buch „Projekt Europa – eine kritische Geschichte“: „Während das britische Unterhaus um den Brexit ringt, zeichnet der deutsch-britische Historiker Kiran Klaus Patel ein überraschendes Bild der Europäischen Union, die weniger an der Realität leidet als an einem übersteigerten Selbstbild“. Der Artikel weckt mein Interesse für die vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Buch; auch auf diese Lektüre bin ich gespannt.

Tatsächlich beschäftigen derzeit diverse Brennpunkte in Europa; und tatsächlich mag man sich fragen, wohin derart grosse und bürokratische Gebilde führen bzw. ob wir derzeit deren Grenzen vor Augen geführt erhalten. Demgegenüber steht eine unermessliche Vielfalt an Menschen, Regionen und Kulturen: ein riesiges humanitäres Potenzial.

Europa: Fiktion oder Realität?

Als ob das (Appenzeller) Tagblatt von unserem Reisevorhaben wüsste: gestern 12.Januar 2019 stachen gleich vier ausführliche Artikel zum Zustand des gegenwärtigen Europa ins Auge. Einer davon zum Europa-Roman „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse (2017) und dessen grosszügiger Interpretation der schriftstellerischen Freiheit. Das riecht nach Pflichtlektüre für unser Vorhaben; das Buch ist somit bestellt. Mehr dazu später.