Im Lande der (R)evolution

Vielleicht kommt es doch nicht ganz von ungefähr, dass wir uns vor vier Jahren beim Kauf unseres Camping-Cars für den „Globecar (R)Evolution“ entschieden hatten. Tatsächlich hat der Name schon damals bei mir alte Sympathien hervorgerufen. Eine gewisse Faszination für alles Unkonventionelle hat mich schon immer begleitet. Kommt dazu, dass in diesem Begriff nicht nur von der (oft negativ konnotierten und oft mit Gewalt verbundenen) Revolution die Rede ist, sondern auch gleichzeitig von der Evolution, der immerwährenden und notwendigen Entwicklung (oder Ent-wicklung). Alles ist Bewegung, alles ist Veränderung – und so gesehen ist alles in Entwicklung, auch wenn manchmal vermeintliche Rückschritte augenfällig sind.

Heute – beim Ausmähen der rund dreihundert Meter langen Kastanien-Allee des Schloss-Weingutes – gingen mir viele Gedanken durch den Kopf; einige davon haben mir wohl einen neuen Zugang zu den Grundsätzen der französischen Revolution verschafft.

Liberté – Egalité – Fraternité

Die Gleichheit (égalité) setze ich nun einfach mal voraus. Ob Weinbauer, Schlossbesitzer oder freiwilliger Workawayer, wir alle haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Lebenswege, Erfahrungen und Lebens-Aufgaben. Oft wissen wir gar nicht, welche davon sich hinter dem Gesicht eines Gegenübers verbergen. Gleichheit und Gleichwertigkeit gilt für mich einfach ganz grundsätzlich.

Die Brüderlichkeit (fraternité) und sinngemäss natürlich die Geschwisterlichkeit leben wir konkret mit unserem Workaway-Einsatz: etwas Zeit verschenken, in andere Lebenswelten eintauchen und ganz praktisch mit anpacken. Derzeit gibt es ja gerade wieder einige neurobiologische Studien und Filme, die die These untermauern, dass Menschen grundsätzlich auf Altruismus gepolt seien. Ja tatsächlich, es macht Spass, etwas Sinnvolles (Not-wendiges) zu tun, irgendwo mitzuwirken und dabei zu spüren, dass der eigene Einsatz geschätzt wird und jemandem tatsächlich Freude bereitet.

Und über all dem die Freiheit (liberté), in meinem Fall die grandiose und unermesslich wertvolle Freiheit, einfach das zu tun was Spass macht, mich dort einzusetzen wo ich unmittelbar Sinn stiften kann …. und mich auch zu verabschieden, wenn mir diese zentralen Bedingungen meiner selbst nicht mehr gegeben scheinen. Wer Zeit und Arbeit verschenken kann, ist tatsächlich „sein eigener Herr und Meister“.

Ob solcher Gedanken kommt mein Idealismus bereits wieder in Fahrt; wann wohl kommt es in der Schweiz zu einer zweiten Abstimmung über das „bedingungslose Grundeinkommen“? Ich meine zu erahnen, dass dies eine zentrale Grundlage von „Liberté – Egalité – Fraternité“ und damit tatsächlich (r)evolutionär sein könnte.

Woche 5 / (18.) 22. April bis 28. April 2019

In St.Germain-sur-Vienne werden wir auf dem Schloss-Weingut „Château du petit Thouars“ erwartet (Link führt zur Bilder-Galerie). Schon die Zufahrt ist ein Eintauchen in eine neue Welt, der Kiesweg führt von der Strasse weg, durch die Kastanien-Allee in dichtes Grün. Nach einigen Kurven taucht ein prächtiges Kalkstein-Gebäude auf, welches eine grosse Lichtung überragt. Soweit das Auge reicht bloss Wald in den zartesten Farbnuancen des beginnenden Frühlings: hellgrün, dunkelgrün, graugrün, gelblich, grün mit leichtem Braunton, eine schier grenzenlose Palette. Ebenso beeindruckend das dichte Gewirr unzähliger Vogelstimmen. Noch am ersten Abend beobachten wir aus dem Zimmerfenster Feldhasen und eine Fasanen-Familie (Vater, Mutter und zwei Töchter), die hier ganz offensichtlich heimisch sind. Der Fasan wehrt mit seinem durchdringenden hustenähnlichen Krächzen ab und zu ein paar aufdringliche Krähen ab.

Die junge Familie, die dieses Schloss bewohnt, empfängt uns herzlich und völlig offen. Wir können unser Zimmer im ehemaligen Bediensteten-Haus gleich nebenan beziehen. Unübersehbar, dass uns hier eine von Improvisation und Spontaneität geprägte Welt erwartet. Zwei junge Frauen aus Deutschland, eine Workawayerin und eine 23-jährige Studentin, die als AuPair für die Kinderbetreuung zuständig ist, sind seit Anfang April hier und geben uns eine erste Einführung in die Gepflogenheiten. Gekocht wird vom Chef des Hauses persönlich, man wisse aber nie so genau, wann dies der Fall sein wird: auf jeden Fall sollte man sich darauf einstellen, dass das Abendessen nicht vor 21 Uhr beginne … das Mittagessen wohl frühestens um 13.30 Uhr und das Frühstück … na ja. Arbeitsbeginn sei jedenfalls nie vor 9.30 des nächsten Morgens.

Überraschend ist für uns dann das erste Diner: es dauerte von ca. 21.30 bis ca. 23.30 Uhr. Am Tisch sind auch zwei Freunde des Hauses, ein englischer Parlamentarier (Tory, erklärter Freund Frankreichs und Brexit-Gegner) und seine Verlobte, ihres Zeichens Direktorin des königlichen Shakespeare-Theaters in London. Wir sitzen an einem riesigen ovalen Esstisch, in einem alt-ehrwürdigen Esszimmer in Eichen-Furnier-Ausstattung, umgeben von lauter opulenten Ölgemälden (14 Repliken des Medici-Zyklus von P.P.Rubens, deren Originale im Louvre in Paris hangen) an den Wänden. Das Haus atmet mehrere hundert Jahre adliger Familiengeschichte. Nachdem die Eltern gestorben sind, hat das junge franko-kanadische Paar mit den zwei (bald drei) kleinen Kindern das Anwesen übernommen: wohl Lust und Last zugleich. Das mondäne Leben in Paris gegen ein Landleben in (aristokratischer) Natur-Idylle am Rande der (Welt) Vienne einzutauschen ist wohl nicht ganz ohne.

Nun, die Weltoffenheit scheint nicht abhanden gekommen zu sein; am Tisch wird bunt durcheinander englisch-französisch und deutsch gesprochen. Die Themen wechseln zwischen Essen, HipHop,  britischer Politik, Musik und altehrwürdiger Familiengeschichte. Und auch die Tatsache, dass hier regelmässig AuPair’s und WorkawayerInnen mit am Tisch sitzen, zeugt von Offenheit und Vertrauen.

Nach ersehnter und später Nachtruhe sind wir den ganzen Freitag über eifrig im Einsatz: Rasenmähen, Putzen, Einrichten, Aufräumen. Zusammen mit dem Kellermeister (maitre de chai) Michel und seinem Gehilfen Philippe beteiligen wir uns an den letzten Arbeiten vor dem Tag der offenen Tür. Damit entsteht in kürzester Zeit ein solidarischer Boden, eine gemeinsame Vertrautheit.

Als am Samstag die ersten Aussteller anreisen, gehören wir schon richtig dazu. Guy, der Fouée-Bäcker bereitet Unmengen von Teig, die er während der drei Tage am Holzofen verbacken wird. Fouées sind kleine Teig-Rondellen, die sich im Holzofen in kürzester Zeit aufblähen: aufgeschnitten und gefüllt ergibt sich daraus ein wunderbares Häppchen in zig Varianten: mit Blutwurst, Kräuterkäse, Ziegenkäse, Nutella, Crème Caramal salé, Aprikosen-Konfitüre und vielem mehr lässt sich diese landestypische Spezialität füllen. François, der pensionierte Patissier (Président de la Tour de France des Patissiers) wird während der drei Tage seinen Stand mit Schokolade-Spezialitätern betreuen und vor dem Publikum allerlei Formen giessen. Jean-François, der pensionierte Mitarbeiter der benachbarten „centrale nucleaire EDF“ (Atomkraftwerk) ist heute passionierter Bienenzüchter. Er vermittelt sein breites Wissen über die Welt der Bienen – und verkauft dabei seinen eigenen Honig und ein schmackhaftes „pain d’épices“. Guy, der Steinmetz, sitzt mit verschmitzt lachender Miene vor dem Gewölbekeller an seinem Steinmetz-Tisch und verarbeitet mit Klöppel und Meissel den weichen weissen Tuff-Kalkstein der Gegend. Véronique bietet ihren einzigartigen Ziegenkäse aus der Region an und Brian, der Kleinbrauer mit englischen Wurzeln, bietet ein ausgezeichnetes bitter-hopfiges Dunkles zum Verkauf an. Michel, der Kellermeister (und Strippenzieher des Tages), hat ein ausgedientes Weinfass so ausgeschnitten und hergerichtet, dass es als Räucherkammer taugt. Darin werden zwei Schweins-Medaillons vor Ort geräuchert. Ein altes aufgeschnittenes Ölfass dient als Barbecue-Grill. Michel – er selbst kein Kost-Verächter – ist sehr darauf bedacht, dass alle Aussteller und Helfer ein gebührendes Mittagessen erhalten. Das wird sich an allen drei Tagen (der offenen Tür) als Zentrum und Kristallisationspunkt erweisen: die herzliche Atmosphäre, die gegenseitige Hilfsbereitschaft, das humorvolle Miteinander und das fach- und landes-übergreifende Interesse finden hier ihre Mitte. Wir fühlen uns bestens aufgehoben und akzeptiert in dieser fröhlichen Runde.

Renata engagierte sich durch all diese Tage hindurch im „Backoffice“, im Nachschub sauberer Weingläser wie auch in der fürsorglichen Unterstützung der Mitarbeitenden mit Kaffee. Christoph war verantwortlich für Paketierung und Auslieferung der Weine. Drei Tage der Wein-Degustation im originellen Gewölbekeller, von Ostersamstag bis Ostermontag ein Kommen und Gehen, Touristen, Einheimische, Nachbarn, Freunde: eine quirlige bunte Welt mit zahlreichen Oster-Überraschungen.

Am Dienstag ging dann der Alltag los. Renata war hauptsächlich am Jäten im Blumenbeet vor der Schloss-Fassade und Christoph war derweil mit der Motorsense unterwegs. Es galt die Strassenränder zu mähen, zwischen Rosen und Bäumen auszumähen, das Wegbord zu roden etc..


Augenfällig geht es hier (für uns einmal mehr ;-)) um das Spannungsfeld zwischen SEIN und SCHEIN. Viel Energie soll darauf verwendet werden, den Gästen des Schlosses bzw. des Weinkellers einen aufgeräumten ersten Eindruck zu vermitteln …. während beim zweiten Blick in Küche, Büro und hinter die Fassade das „ganz normale Chaos“ sichtbar wird. Na ja, unsere Themen (hat da jemand „Perfektionismus“ gesagt??) holen uns immer wieder ein. Für uns (als SchweizerIn?) ganz offensichtlich ein riesiges Übungsfeld in Toleranz und Grosszügigkeit. Schliesslich wird vieles aufgewogen durch grosse Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Offenheit; dies alles verbunden mit unzähligen Sprüchen, hintersinnigen „jeu de mot’s“ (Wortspielen) und purer Lebensfreude.

Es sei nicht verschwiegen, dass wir jeden Abend ausgezeichnet essen und sämtliche Weine des eigenen Kellers grosszügig ausprobieren können. Auf die Frage, ob er mal eine Ausbildung als Viticulteur oder Sommelier genossen habe, antwortet der Patron eindeutig: es gehe alles über die eigene Erfahrung, soviel wie möglich ausprobieren, von allerlei Weinen kosten, Länder und Produktionsweisen vergleichen, zuhören … und neugierig weitere Erfahrungen sammeln.

Die Tage unserer Ankunft auf dem Schloss-Weingut sind teilweise noch geprägt von der Brand-Katastrophe in der Notre-Dame von Paris. Respektvolle Bemerkungen … aber auch Witz und zuweilen gar Sarkasmus sind spürbar. Die Menschen um uns wirken jedenfalls nicht schockiert oder besonders betrübt. Das Leben scheint weiter zu gehen….

Uns drängt sich dabei immer wieder die Frage auf, wie denn heutzutage mit „Zeugen der Geschichte“ umzugehen sei. Von wann bis wann gilt etwas als Geschichte? Wann ist der Zeitpunkt bzw. was ist der Grund, dass gewisse Dinge und Zustände richtiggehend eingefroren werden (sollen)? Gehört nicht manchmal auch eine (teilweise) Zerstörung essentiell zur Geschichte? Weshalb besuchen Touristen am einen Ort Ruinen (z.B. die Akropolis von Athen), während andernorts möglichst naturgetreue Repliken als Touristenmagnet herhalten müssen? Weshalb ist der Erhalt oder Wiederaufbau von Nationalsymbolen wichtiger als die soziale Wohlfahrt aller BürgerInnen?

Es mag Fragen geben, die nicht (sofort) beantwortet werden müssen.

Glück ist das Einzige das sich verdoppelt, wenn man es teilt. (Albert Schweitzer)

…. Tue mehr von dem, was gut tut.

Wir schätzen das Privileg unserer derzeitigen Lebensphase, die eigene Lebenszeit nochmals ganz bewusst ausrichten zu können auf jene Werte, Themen, Menschen und Sachen, die uns besonders am Herzen liegen. Und für uns ist klar, dass es hierbei hauptsächlich um immaterielle Werte gehen wird, um solidarisches Handeln, um gegenseitige Unterstützung und Teilen, um Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Mit unserer vorzeitigen Pensionierung nehmen wir zwar materielle Einschränkungen in Kauf, schenken uns aber gleichzeitig die Freiheit zum Experiment: sozusagen eine private Vorwegnahme wie es wäre, mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zu leben. Wir sind gespannt zu erfahren, welche Energien ein solches Experiment freizusetzen vermag.

Leider fand die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens beim Schweizer Volk 2018 noch keinen Anklang. Als isoliertes – wenn auch visionäres – Projekt fehlten wohl tatsächlich noch relevante Rahmenbedingungen. Wenn die Digitalisierung weiter fortschreitet und die Lohnarbeit noch knapper wird, dann sind solche Reformen jedoch dringender denn je. Allerdings wird das wohl gekoppelt sein müssen mit z.B. einem neuen Bodenrecht (welches Bodenbesitz zum Allgemeingut macht, Boden nur im Baurecht weitergibt und ihn damit der Spekulation entzieht), einem Geldschöpfungsrecht, das alleine bei der Nationalbank liegt (Vollgeld-Initiative) und einer Kapitalfluss-Steuer (welche die unsinnige und unethische Akkumulation von Geld ohne Arbeit und damit das neuerliche Auseinanderdriften der Kapitalismus-Schere stoppt). Mehr dazu: Fairconomy – Initiative für eine natürliche Wirtschaftsordnung

Mitmenschen

Ein programatisches Zitat des Dalai Lama hat mich in der Vorbereitung unseres Reiseprojektes besonders beeindruckt. Im Dialog mit Erzbischof Desmond Tutu sagte der Dalai Lama:
„Wenn ich einen Menschen treffe, …. versuche ich immer, mich auf einer grundlegenden menschlichen Ebene auf ihn zu beziehen. Auf dieser Ebene weiss ich, dass der andere genau wie ich sein Glück finden und weniger Probleme und Schwierigkeiten in seinem Leben haben will. Egal, ob ich nur mit einer Person oder vor einer grossen Gruppe spreche, ich betrachte mich immer zuerst als ein weiteres menschliches Wesen unter vielen. Dann ist es nicht einmal nötig, dass ich mich vorstelle. Wenn ich mich dagegen im Umgang mit ihnen als ein anderer sehe – als Buddhist, als Tibeter und so weiter -, baue ich Mauern auf, die mich von ihnen fernhalten. Und wenn ich im Umgang mit ihnen daran denke, dass ich der vierzehnte Dalai Lama bin, schaffe ich die Grundlage für meine eigene Trennung und Einsamkeit. Schliesslich gibt es auf der ganzen Welt nur einen Dalai Lama. Wenn ich mich dagegen primär als Mitmenschen sehe, habe ich mehr als sieben Milliarden Artgenossen,. mit denen ich mich tief verbunden fühlen kann. Und das ist wundervoll, nicht wahr? Was soll uns noch Angst und Sorgen machen, wenn sieben Milliarden Menschen mit uns sind?“
In: Dalai Lama – Desmond Tutu, Das Buch der Freude, Lotos-Verlag 2016
(Red. Douglas Abrams), Seite 115f