(Wie) kann Partizipation und Dialog gelingen? – meine abschliessende Reflexion zum Summer of Pioneers

„Was ist das für eine Zeit, in der wir so viel zu wissen und so wenig zu verstehen scheinen – in der wir als Menschheit global vernetzt sind wie nie zuvor und uns als Individuen gleichzeitig so einsam und machtlos fühlen? Die Welt beweist uns täglich, dass unsere Art zu denken überholt ist und die nächste Stufe der Integration ansteht. Kosha Anja Joubert führt uns in das Abenteuer Gemeinschaft, in dem jeder und jede von uns eine wichtige Aufgabe hat. Sie zeichnet das Bild einer funktionierenden sinnvollen Gesellschaft, die nicht auf die Macht Einzelner, sondern auf die Weisheit der Vielfalt setzt. Endlich wird das Potenzial der kollektiven Intelligenz für unsere Kultur wirklich greifbar.“
(Klappentext zu K.A.Joubert, Die Kraft der kollektiven Weisheit – wie wir gemeinsam schaffen, was einer allein nicht kann, Kamphausen-Verlag Bielefeld, 2010)

Gestern Abend unser letztes Weekly. Ernüchtert (und wohl auch erleichtert) stellen wir fest, dass nicht nur Corona uns ausgebremst hat (auch wir uns gegenseitig), dass bei allem Willen zur „fun and feelgood-Atmosphäre“ etwas nicht ganz stimmt. Der Stammtisch-Anlass vom vergangenen Freitag zusammen mit etlichen Blumenfeldern hat es nochmals sichtbar gemacht: eine Gruppe Menschen ist nicht per se zu verantwortlicher Haltung prädestiniert. Wenn niemand einen Rahmen setzt, dann scheinen sich Rücksichtnahme, Selbstbeschränkung und – situationsbezogen sinnvoller – Verzicht nicht automatisch einzustellen. (Gilt vermutlich gleichermassen lokal wie global.)
Einmal mehr zeigte sich, dass uns im SoP-Projekt ein Haltungs- und Wertekonsens fehlt und wir tendenziell in 2erlei Welten nebeneinander leben: der rauschhaft enthemmte Zustand erst scheint den einen den „wunderschön stimmungsvollen Abend“ zu bescheren, während andere lieber stille Genussmomente, tiefergehende Gespräche (zuweilen gar vertrauensvolles miteinander Schweigen) vorziehen.
Unser Nachhaltigkeitsverständnis ist offenkundig unterschiedlich geblieben. Das Verständnis von Entscheidungsfindung auf Augenhöhe, von Partizipation und Konsensfindung ebenso. Während die Einen den Erfolg über Teilnehmerzahl, öffentliche Aufmerksamkeit und Medienpräsenz messen, achten Andere eher auf kleine und stille Zeichen des Miteinanders und des Berührt-Werdens.

Anfang Juli hatte ich zuversichtlich und optimistisch meine Hoffnung überschrieben mit „Wie werden Menschen gemeinsam und lustvoll kreativ und produktiv?“ (vgl. Beitrag vom 8.7.2021, zur Startphase des SoP). Heute reflektiere ich unsere Erfahrungen und unsere Fähigkeit zur Selbstorganisation zwar recht kritisch, ohne dass ich deshalb das Ideal einer selbstorganisierten Gemeinschaft aufgeben will. Rahmenbedingungen, Herangehensweise und Werthaltungen müssten allerdings gründlich überprüft und geklärt werden.

Nicht zu übersehen sodann, dass das Projekt von einem Triumvirat als Projektleitung initiiert war; wohl nicht ganz frei von rollenspezifischen Interessen. Diese entschied über Projektanlage, über zur Verfügung stehende Fördergelder sowie über die Zusammensetzung des Teams. Transparenz und Partizipation waren bis zu diesem Punkt überhaupt nicht vorgesehen. Die Sensibilität für die Bedeutung sorgfältiger sozialer Prozessgestaltung war nicht im Fokus oder genoss jedenfalls keinerlei Priorität.

Ist das Konzept „Summer of Pioneers“ geeignet, nachhaltige Brücken zwischen „Stadt und Land“ zu schaffen? Interessant wohl der Ansatz und ehrenwert die Absicht. Doch bereits in der Begrifflichkeit sehe ich die Gefahr eines latenten Neo-Kolonialismus: „Pioniere“ wagen sich hinaus zu den „urwaldähnlichen“ Zuständen auf dem Land und bringen die digitale und kreative Verheissung. Die unzähligen Anglizismen in der Sprache, der ach so aufgeschlossene und hippe Umgang mit digitalen „Tools“, die auf Aussenwirksamkeit bedachte Event-Kultur könnten die Exportartikel kolonialistischen Auftretens sein.

Doch wie kann das Vertrauen der Bevölkerung nachhaltig gefunden werden? Ginge es da mitunter zuerst um das aufmerksame Zuhören, um die feineren Töne, die stilleren Gespräche? Die respektvollen und sorgfältigen Begegnungen von Mensch zu Mensch, in gegenseitiger Hilfsbereitschaft? Ist der – derzeit staatlich massiv geförderte – Boom der Urbarmachung (Urbanisierung? Urbarisierung?) ländlicher Regionen eine ernstgemeinte und nachhaltige Alternative oder eher ein Hype? Julie Zeh (die Autorin von „Über Menschen“ und „Unter Leuten“) lässt jedenfalls grüssen.

Wie könnten Partizipation und Dialog von Beginn weg verankert werden? Was, wenn die Blumenfelder/Tengener Bevölkerung schon im Vorfeld und schrittweise in das Vorhaben eines „summer of pioneers“ einbezogen gewesen wäre? Was, wenn etwa Gastfamilien und Ferienzimmer/-wohnungen in der näheren und weiteren Nachbarschaft gesucht worden wären als Beherbergungsmodell für die Pioniere? Was, wenn GastgeberInnen und Pioniere sich selbst hätten gegenseitig aussuchen/finden können?
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Umsetzungsorientierung und Nachhaltigkeit des Projektes sich deutlich steigern liessen, wenn die Verzahnung mit der Bevölkerung bereits im Projektdesign beginnen würde. Das Schloss als „Co-Working“-Ort bekäme in diesem Fall von Beginn weg eine wesentlich klarere Kontour.
Vorausgesetzt allerdings, dass die Schlag-Worte von „Partizipation“ und „Dialog“ nicht nur plakativ benutzt würden, dass alle Beteiligten sich gegenseitig die nötige Zeit und Aufmerksamkeit schenken, um solche Prozesse intensiv durchzuleben, um wirklich hinzuhören und der Verlockung schneller Macht-Entscheide zu widerstehen. Im Kleinen wie im Grossen; kurzfristig wie langfristig. Dies in der tiefen Überzeugung, dass in der Vielfalt die Einheit zu finden ist, dass wahre Kraft in der kollektiven Weisheit liegt und dass wir gemeinsam mehr schaffen, als einzelne je vermögen. (gemäss K.A.Joubert)

Interessant und lehrreich war der gemeinsame Prozess allemal. Viele schöne Erinnerungen an berührende Gespräche, gemeinsame Erlebnisse und beglückende Zu-Fälle bleiben bestehen. Manche Kontakte werden weiterleben. Den Traum gegenseitig inspirierender kreativer Prozesse und der Potenzialentfaltung in Gemeinschaften werde ich auf unsere Reisen und in unsere künftigen workaway-Einsätze weitertragen.

Unser „Schwester-Projekt“, der Summer-of-Pioneers in Homberg/Efze in Nordhessen, wurde in einer sehenswerten und sehr sympathischen ARD-Doku portraitiert (45Min). Wohl wissend, dass mediale Berichte auch nur einen Teil bzw. die Oberfläche eines Geschehens abzubilden vermögen, zeigt der Film meines Erachtens eine zuversichtliche Aufbruchstimmung mit nachhaltigem Potenzial.
Was waren da wohl die etwas anderen Gelingensbedingungen? Drei Hypothesen: Ich vermute mal, dass die dezentrale Wohnform in Kleinwohnungen bzw. Wohngemeinschaften im Ort viel zum unverkrampften Verlauf und zur Verankerung in der Bevölkerung beigetragen hatte. Sodann könnte die langjährige persönliche Verankerung des Projektleiters im Ort eine bedeutsame Brückenfunktion dargestellt haben. Und schliesslich scheint mir die ergebnis- und prozessoffene Grundhaltung des Bürgermeisters eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen: Was auch immer geschieht, Hauptsache, neue Menschen kriegen Lust, sich hier anzusiedeln.

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