Robert Wringham, Ich bin raus – Wege aus der Arbeit, dem Konsum und der Verzweiflung, Heyne München, 2.Auflage 2018
Der Journalist und Humorist Robert Wringham (geb. 1982) ist Herausgeber des Magazins „New Escapologist“. Er lebt abwechselnd in seiner Heimat Schottland (Glasgow) und in Kanada (Montreal). Der biographischen Metapher des Entfesselungskünstlers Houdini entlang entwickelt er eine differenzierte „Lehre des Ausstiegs“ aus einer neoliberalen und kapitalistischen Leistungs- und Erfolgslogik. Der grundsätzlichen – durchaus an uralte philosophische Denktraditionen anknüpfenden – Systemkritik begegnet er weniger mit politischen Forderungen als vielmehr mit einer konsequenten Anleitung zum individuellen und persönlichen Handeln. Sozusagen ein: Befreie Dich selbst! Es ist gar nicht so schwierig, braucht bloss etwas List, den Mut zum Unkonventionellen und die Bereitschaft, sich ab und zu in freiwilliger Selbstbeschränkung zu üben. Dabei verändert sich Dein Blick und Du lernst mehr und mehr, in diesem Lebensstil Deinen persönlichen Netto-Gewinn zu erkennen.
Das Buch könnte – inhaltlich gesehen – jenes sein, das ich mir schon vor 20 Jahren zu schreiben vornahm. Mir fehlte damals aber ganz offensichtlich die humoristische Leichtigkeit und selbstkritische Distanz, um so etwas zu verfassen; mir war mit all diesen Fragen und dem systemkritischen Hadern viel zu ernst. Deshalb wohl blieben meine Text-Fragmente zum Themenkreis Zeit-Wert-Arbeit all die Jahre über in der Schublade. Formal gesehen ist es aber nicht „mein“ Buch: Wringham geht schon arg polemisierend und pauschalisierend vor, erzählt am laufenden Band, bringt stets wieder Verweise zur Philosophiegeschichte und praktische Beispiele aus dem eigenen Leben wie auch aus der Community der „Escapologists“. Eingestreut in sein Erzählen finden sich stets wieder überraschende Perlen und wertvolle Verweise auf originelle Menschen und spannende Bücher.
Gewiss, das herrschende gesellschaftliche System kann und soll entlarvt werden, denn zu gross sind mittlerweile dessen Kollateralschäden auf allen Ebenen, etwa hinsichtlich Endlichkeit ökologischer Ressourcen, Klimakatastrophe, menschliche Ausbeutung, Selbstausbeutung, psychische Vereinsamung etc. etc.. Allzu offensichtlich, dass ein zunehmend von Entfremdung geprägtes materialistisches System zu einseitig ist. Und dass das verheissene kompensatorische Konsumverhalten nur Löcher zu stopfen vermag – und stets wieder neuer Löcher aufreisst. Man kann mit Ivan Illich durchaus feststellen, dass das auf BSP-Steigerung und Gewinnmaximmierung ausgelegte Wirtschaftssystem zunehmend und als Ganzes von letztendlicher „Antiproduktivität“ geprägt ist. Würde man konsequente „Global-Vollkostenrechnungen“ machen, so käme dies eindeutig zu Tage.
Da ist es plausibel, dass ein – schon in der griechischen Antike (Epikureer, Stoiker) verankerter – Müsiggang für den persönlichen Lebensstil eine ernstzunehmende Alternative darstellt. Wer genügsamer lebt, weniger braucht, mit kleinen Dingen zufrieden und glücklich ist, auch Durststrecken aushalten und diesen einen Sinn abgewinnen kann, der lebt zweifellos mit einem deutlich kleineren „ökologischen Fussabdruck“. Sich aus unwirtlichen Hamsterrad-Effekten zu befreien lohnt sich, individuell wie auch global!
Einige Reminiszenzen aus Wringham’s Buch:
„Wir müssen herausfinden, wie man Jobs hinter sich lässt, die man nicht mag, wie man dem Sirenengesang des Konsums widersteht, wie man Schulden vermeidet und sich dem Stress, der Bürokratie und dem Marketing entzieht. Wir müssen herausfinden wie man den sklavischen Gedanken entgeht, die uns von der Konsumwirtschaft eingeimpft wurden: Geiz, Unglücklichsein, passiv-aggressive Einstellung, Misstrauen, Konkurrenz und Unterwerfung.
Die Lösung ist, die Entfesselungskunst auf eine ganz neue Art zu betrachten: Man kann nicht nur jeder Falle entrinnen, man kann ihr auch selbstbnewusst und mit Gelassenheit entkommen und den Akt der Befreiung mit Humor, spielerisch und als Herausforderung angehen.“ (S. 26)
„Der amerikanische Philosoph Buckminster Fuller meinte einmal, wir hätten Kontrolleure für Kontrolleure und Leute, die Geräte erfinden, damit Kontrolleure andere Kontrolleure kontrollieren können.“ (S. 39)
„Sogar die übriggebliebenen sozial nützlichen Jobs werden durch irgendwelche idiotischen Vorgaben heruntergewirtschaftete, …: Alle müssen sich ständig mit gigantischen Bergen von Formularen herumschlagen und sind verpflichtet, „Massnahmen zur Qualitätsverbesserung“ durchzuführen, angefangen bei Brandschutzübungen bis hin zu leeren Lippenbekenntnissen. … Es gibt eine Überprofessionalisierung des menschlichen Drangs zu helfen oder sich zu kümmern. Ständig muss die Verwendung von Geldern gerechtfertigt werden.“ (S. 42)
„Die ultimative Konsequenz des Konsums ist – und ich hoffe das klingt jetzt nicht zu esoterisch -, dass er die Menschen davon abhält, etwas von bleibendem Wert zu schaffen. Ich weiss nicht genau, was diese Dinge von bleibendem Wert sein könnten, aber ich habe so eine leise Hoffnung, dass der Höhepunkt der menschlichen Entwicklung nicht bereits mit der Konsumwirtschaft überschritten ist. Das kann einfach nicht alles gewesen sein, … Es gibt ein ganzes Universum da draussen zu entdecken, und sieben Milliarden Universen in uns drinn. Wir können die Welt befrieden, Kunstwerke herstellen, beinahe unendlich verfügbare Energiereserven nutzen, uns einfachen und komplexen sinnlichen Genüssen hingeben. … Es wird künstlerische, wissenschaftliche und spirituelle Errungenschaften geben, an die niemand, der zurzeit lebt, jemals gedacht hat … . Und ausserdem wäre es doch nur recht und billig, wenn wir hinter uns aufräumen würden, bevor wir uns davonmachen, damit andere, nichtmenschliche Lebensformen sich nach unserem Verschwinden entwickeln und gedeihen können.“ (S.81/82)
Kleine Auswahl von Überschriften:
Vorschläge für die Grundlagen des guten Lebens
– optimale Gesundheit
– So viel freie Zeit wie möglich
– ein paar Freunde, auf die man sich verlassen kann
– Wertschätzung der eigenen Umgebung
– sinnliche Genüsse
– absichtliche und nicht absichtliche intellektuelle Stimulation
– kreative Möglichkeiten, die uns persönlich etwas bedeuten
– eine saubere und würdevolle Wohnung
– positive Angewohnheiten, auf die wir stolz sein können
Der Arbeit entkommen – Wege in die Freiheit
– Überstunden standhaft ablehnen
– Teilzeitarbeit
– Job-Sharing
– Verantwortung teilen
– Zeitarbeit
Wege in die Freiheit für total verrückte Entfesselungskünstler
– Im Wald leben (H.D.Thoreau)
– Vom Müll profitieren
– Tu was du willst
– gespart ist auch verdient
Danach folgen diverse praktische Tipps für einen minimalistisch genügsamen Lebensstil. Und bei alledem: spielerisch ausprobieren, Musse geniessen, Humor zelebrieren.
Mir ist das Buch etwas zu polemisch, etwas zu ausführlich und zu wenig übersichtlich. Müsste ich ein Buch zur Thematik weiterempfehlen, so wäre es also eher „Ich brauche nicht mehr“ von Ines Maria Eckermann (vgl. meine frühere Buchbesprechung).
Einige Verweis-Perlen aus Wringhams Buch seien zum Abschluss aber doch noch aufgeführt:
Bea Johnson, ZeroWasteHome (Buch und gleichnamiger Blog)
Brownie Ware, 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen und der Blog dazu. Ihre Auflistung ist es immer wieder wert, in Erinnerung gerufen zu werden:
1. «Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie es andere von mir erwarteten.»
2. «Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.»
3. «Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.»
4. «Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden in Kontakt geblieben.»
5. «Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.»
Thimothy Ferris, Die 4-Stunden-Woche
Jacob Lund Fisker, Das ERE-Prinzip(EarlyRetirement Extreme) / Blog“genug haben“
New-Escapologist-Blog
Henry Miller, 11 Gebote für den Schriftsteller
Catherine Doughty, Smoke gets in your eyes / Blog einer innovativen Leichenbestatterin mit hawaianischen Wurzeln, welche dem Tod zu gesellschaftlicher Akzeptanz verhelfen will