Filmfestival Davos ? ! ? – es war einmal ein Olivenbaum

Die Filmtage Solothurn sind abgesagt bzw. auf online verlegt. Mein Glück … denn gerne folgte ich Jakob’s Einladung, einige Filmtage in einer Ferienwohnung in Davos (corona-tauglich) im privaten Rahmen durchzuführen. Vier intensive Tage mit vielfältigen neuen Filmen, mit interessanten Gesprächen, gemeinsamem Kochen, Essen und Geniessen.

Sonntag:

Das neue Evangelium / Regisseur: Milo Rau / 2020 / Doku-Fiction • 1h 57m
Was würde Jesus im 21. Jahrhundert predigen? Wer wären seine Apostel? Gemeinsam mit Yvan Sagnet, einem ehemaligen Landarbeiter und politischen Aktivisten aus Kamerun, entwirft der Regisseur ein neues Evangelium für das 21. Jahrhundert: Ein Manifest der Solidarität der Ärmsten, ein filmischer Aufstand für eine gerechtere, menschlichere Welt.
Der Film ist ein Auftragsprojekt zur Europäischen Kulturhauptstadt 2019 in Matera, in der süditalienischen Basilikata. Filmgeschichtsträchtig, weil hier bereits Pier Paolo Pasolini (das 1.Evangelium nach Matthäus, 1964) und Mel Gibson (Passion Christi, 2004) gewichtige Jesus-Filme gedreht hatten. Mich berührt an diesem sehr dynamischen, mutigen und unkonventionellen Film, wie Milo Rau den Bogen schlägt vom biblisch-epischen Grundmotiv zu den ganz aktuellen Tragiken und Zeitfragen, unmittelbar in und um Matera. Gewissermassen ein Werkstatt-Film über die Entstehung einer Passions-Aufführung, ein rollender Prozess unter Einbezug von Menschen, die ihre eigene Rolle spielen. Und es sind noch keine drei Monate her, als wir selbst noch in Matera waren ….

Nachbarn / Regisseur: Mano Khalil / 2020 / Spielfilm / Fiction • 2h 4m
Ein kleines Dorf an der syrisch-türkischen Grenze in den frühen 1980er Jahren: Der sechsjährige Kurdenjunge Sero erlebt sein erstes Schuljahr in einer arabischen Schule und muss zusehen, wie seine kleine Welt im Zuge eines absurden Nationalismus radikal verändert wird. Humoristisch und doch ernsthaft erzählt der Film von einer Kindheit, die zwischen Diktatur und dunklem Drama auch ihre leichten Momente findet.
Ein äusserst feinfühliger Film mit Bildern und Einstellungen von epischer und poetischer Schönheit. Und gleichzeitig eine Geschichte, die sehr betroffen macht und unter die Haut geht. Ein Lehrstück über die Würde aller Menschen – und darüber, wie ideologisch verbrämter Eifer letztlich auch die Eiferer selbst herabwürdigt. Mein persönlicher Favorit für den Prix de Soleure.

Anche stanotte le mucche danzeranno sul tetto / Regisseur: Aldo Gugolz / 2020 / Dokumentarfilm • 1h 22m
Zwischen Ziegen, Kühen und Alpen wird Fabiano Vater. Doch die Idylle trügt: Er ist bemüht, den Alpkäse herzustellen wie seine Aussteiger-Eltern in den 1970er Jahren. Neben Schulden nagen auch noch Schuldgefühle an ihm. Im Vorjahr verunfallte ein mazedonischer Schwarzarbeiter tödlich. Sein Tod lässt Fabiano nicht mehr los. Wie können er und seine Freundin Eva unter so schwierigen Umständen ein gemeinsames Leben mit ihrem Nachwuchs aufbauen?
Ein ehrlicher Film über das Tessin: viele Szenen spielen in düster-grauer, nebliger und regnerischer Szenerie. Und ein ehrlicher Film über die existenziellen Herausforderungen einer idealistischen Lebensweise als Alpkäser im hintersten Valle Onsernone TI, auf der Alpe d’Arena im Vergelletto.

Montag:

Il mio corpo / Regie: Michele Pennetta / 2020 / Dokumentarfilm • 1h 20m
Oscar, 15 Jahre alt, sammelt für seinen Vater Altmetall. Er verbringt sein Leben auf wilden Schrottplätzen. Ganz in der Nähe lebt Stanley, ein nigerianischer Migrant. Gegen Kost und Logis putzt er die Kirche und erledigt Gelegenheitsjobs. Auf den ersten Blick scheinen Oscar und Stanley nichts gemeinsam zu haben. Ausser dem Gefühl, sich Entscheidungen fügen zu müssen, die von anderen getroffen werden.
Ein erstaunlicher Dokumentarfilm mit aussergewöhnlicher Bildnähe zu den Protagonisten. Die schonungslos offenen Einblicke in den Alltag einer unterprivilegierten Familie im mittleren Sizilien sind dem monatelangen, engagierten und persönlichen Vertrauensaufbau des Regisseurs zu verdanken. Eine Nähe und Intimität, die dennoch für den Zuschauer nicht peinlich wird. Geradezu virtuos, wie es dem Regisseur schliesslich gelingt, dokumentarisches Material in eine spielfilmartige Story zu fügen. Mit Menschen, die keinem Drehbuch folgen und die stets ihre eigene Rolle leben.

sòne: / Regie: Daniel Kemény / 2020 / Dokumentarfilm • 1h 15m
Vor vierzig Jahren lebten in Pietrapaola 2000 Menschen, heute sind es 200. Der Regisseur selber wurde dort geboren als Sohn von zwei Deutschen, die irgendwie dort gelandet waren. Zwanzig Jahre lang ist er nicht zurückgekommen. Nun fragt er sich: Wo sind die anderen? Was sind die Geschichten dahinter? Der Film ist eine Reise in die Musik eines Dorfes zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen persönlichen und kollektiven Emotionen.
Und wieder eine andere Art, einen Dok-Film zu machen: hier wird die echte Kulisse einer echten Kindheit kreativ weiter entwickelt. Das zunehmend menschen-leere Dorf wird zur Plattform für witzige, bildstarke (und mit dem letzten Abendmahl zuweilen auch etwas abgelutschte) Installationen. Und mit den wenigen noch hier lebenden Menschen inszeniert der Regisseur kraftvolle und lustvolle, einfühlsame und herzlich-direkte Interaktionen. Eine lebendige Auseinandersetzung mit einem Kalabrien, das es so bald nicht mehr gibt.

Wanda, mein Wunder / Regie: Bettina Oberli / 2020 / Spielfilm-Fiction • 1h 50m
Wanda betreut Rentner Josef rund um die Uhr in der Familienvilla am See. Sohn Gregi, noch immer bei den Eltern wohnhaft, findet Gefallen an ihr. Trotz mieser Bezahlung braucht sie das Geld für ihre Familie in Polen. Alle unter einem Dach versammelt, erhält Wanda intime Einblicke ins Familienleben und wird plötzlich schwanger.
Der Film steuert mit der ersten Sequenz schon in das moralische Dilemma der oft schlecht bezahlten Pflegerinnen aus dem Osten. Eine mehrschichtige und komplexe Ausbeutungs-Situation: freiwillig? der Not gehorchend? System-bedingte Problem-Verschiebungen aufgrund des wirtschaftlichen Gefälles. Das wäre Stoff genug für einen tiefgehenden Film – der für meinen Geschmack im zweiten Teil jedoch zu sehr in Klamauk und allzu konstruierte Zufälle abdriftet. Leichte Unterhaltung.

C’era una volta l’albero / Regie: René Worni / 2020 / Dokumentarfilm • 1h 31m
Im Salento in Apulien sterben Millionen Olivenbäume und mit ihnen die Lebensgrundlage und Identität der Menschen. Das Ökodrama, verursacht durch ein Bakterium, steht für Umweltveränderungen an vielen Orten der Erde: Artensterben, vergiftete Böden, Wassermangel, Wüstenbildung. Die meisten Salentini stehen zwischen den Fronten von Umweltaktivisten, Produzenten, Politik, EU und Wissenschaft. Einige wenige versuchen, das noch Rettbare zu retten.
Ein spannender und äusserst facettenreicher Dok-Film der klassischen Art: eindrückliche Bilder, lebhafte und kontroverse Interviews, detaillierte Fakten. Die Nähe zur Thematik und zu den davon betroffenen Menschen hat sich der Regisseur durch monatelanges Eintauchen und Mitleben im Salento organisch erarbeitet. Eine subtile Gesamtschau, die eine not-wendige Positionierung – im Sinne einer ganzheitlichen und nachhaltigen Ausrichtung – nicht vermissen lässt. Frappierend, wie viele Aussagen und Positionen dieses Films bei mir eine direkte Analogie zur aktuellen Corona-Pandemie hervorrufen.

Dienstag:

Salvataggio / Regie: Floriane Closhuit / 2021 / Dokumentarfilm • 1h 15m
Eines Tages spürt Floriane einen Schmerz im Knöchel. Eine Verrenkung? Nein, ein Symptom der Multiplen Sklerose! Sie nimmt ihre Kamera und hält fest, was sie erlebt, ohne Rücksicht auf ihre Gemütsverfassung. Sie reist nach Paros, die Sonne und das Meer beruhigen Körper und Seele, sie findet einen neuen Sinn für ihr Leben. Die Griechen sind anders, durch ihre Augen fühlt sie sich wieder als sich selbst, nicht mehr als eine Person mit Behinderung.
Was am Anfang und bei aller Tragik der Situation in eine weinerlich-depressive Selbstschau abdriften könnte, nimmt plötzlich eine entscheidende Wendung: hinaus aus der Opferrolle und hinein in eine neue Subjekthaftigkeit. Filmtechnisch interessant, wie die („ego-zentrischen“?) Dialoge mit der selbstgesteuerten Standkamera fast zwangsläufig auch ein „kreisen um sich selbst“ bewirken. Und wie sich die Stimmung ändert, sobald die Kamera in ruhiger Hand- oder Stativ-Führung einen Blick von Aussen zulässt. Besonders eindrücklich wird für mich die indirekte Gegenüberstellung zweier diametral unterschiedlicher Gesundheitssysteme: in der Schweiz die hoch technisierte, perfektionistische und personalintensive Funktional-Therapie und auf der griechischen Insel die ganzheitliche, schlichte und pragmatische „Therapie des Herzens“. Lebensqualität ist dort, wo die Augen leuchten.

Not me – A Journey with Not Vital

Not me – A Journey with Not Vital / Regie: Pascal Hofmann / 2020 / Dokumentar • 1h 18m
Der Film nimmt uns mit auf einen soghaften Streifzug durch das bewegte Leben und reiche Werk des zeitgenössischen Schweizer Künstlers Not Vital. Das Filmessay beleuchtet das Schaffen des international renommierten Bündners, der lange Zeit in seiner Heimat der bekannte Unbekannte blieb.
Woahh …. am Ende des Films musste ich aufstehen, mich schütteln, durchatmen, auftauchen aus einer unglaublichen Intensität des Mitgehens als Zuschauer. Eine filmische Skulptur, bildstark inszeniert, hoch poetisch komponiert, mit starken Aussagen unterlegt, getragen von der hochgewachsenen und gleichzeitig geerdeten Persönlichkeit eines Not Vital. Hier ist der Name nicht Omen: dieser Mensch ist sehr vital, nicht „not vital“. Eine mitreissende Intensität, durch einen kongenialen Regisseur meisterhaft in Szene gesetzt.

Zwei Filme, die ich mir heute Abend nochmals anschauen muss. Doch zuvor geht’s jetzt noch auf die Langlaufski.

Mittwoch:

Der Ast, auf dem ich sitze / Regie: Luzia Schmid / 2020 / Dokumentarfilm • 1h 42m
Eine Steueroase in der Schweiz, ein halbherziger Kampf gegen Steuersünder in Deutschland, ein ehemals wohlhabendes afrikanisches Land, das durch Weltmarktpreise von Rohstoffen in den Abgrund geführt wurde: Was auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hat, steht für ein globales Wirtschaftssystem, das unser aller Leben bestimmt – und die Filmemacherin ist mittendrin.
….

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