Das Beste kommt noch … wirklich?

Corona hat uns im 2020 schon etwas ausgebremst, was unsere Reiseprojekte und Workaway-Einsätze betrifft. Doch anderseits: waren da nicht unsere Alp-Einsätze im Sinne eines „Workaway at home“, unser Gartenprojekt, die Paddeltouren in der Schweiz? Und das erste Lebensjahr unseres Enkels Paul. Die zahlreichen genussvollen und inspirierenden Begegnungen im Freundeskreis. Die Wanderungen in der näheren und weiteren Umgebung, die (kleinen) Fortschritte im Alphorn-Spiel. Nicht zu unterschätzen sind auch die inneren Prozesse: die Vorbereitungen zur Hausübergabe im kommenden Sommer, die Planung für den nächsten grossen Reise-Abschnitt mit Überwinterung, die vielen gelesenen Bücher, die Auseinandersetzung mit der Idee der Ökodörfer (Global Ecovillage network), die Perspektive auf eine Wohnung im neu entstehenden Mehrgenerationen-Wohnprojekt „Genossenschaft Ziegelhütte Arbon„. Trotz allem ein reichhaltiges Jahr.

Das Lasalle-Haus in Edlibach/ZG hat unter dem Titel „Das Beste kommt noch“ einen Jahreskurs für Frisch-Pensionierte ausgeschrieben. Der entsprechende Info-Tag fand online statt: für mich eine interessante – wenn auch zwangsläufig etwas eindimensionale – Zoom-Erfahrung. Ein thematisch breit angelegtes Kurskonzept, sehr bedenkenswerte Gedankenanstösse. Beim Verweis auf die „Rede des Häuptling Seattle“ (hier eine sehr schön bearbeitete und illustrierte pdf-Version von Peter Lauster) wird mir warm ums Herz: die visionären und engagierten Worte berührten mich bereits vor über 40 Jahren, am Anfang meines Theologiestudiums; und diese Worte sind immer noch aktuell, ja aktueller denn je. Hadern, dass unsere Gesellschaft bzw. die Welten-Gemeinschaft noch keinen Schritt weiter ist? Mich freuen, dass die Basis der veränderungswilligen Menschen doch Schritt um Schritt grösser wird; dass mit Sharing Economy, mit neuem Minimalismus, mit Klimagerechtigkeit, Nachhaltigkeits- und Transition-Projekten, Postwachstumsökonomie und bewusstem Lebensstil immer mehr junge Menschen neue und nach-kapitalistische Prioritäten setzen? Für mich wähle ich Letzteres. Ich empfinde eine stille Freude darüber, den Gedanken des Häuptling Seattle erneut zu begegnen, mich immer noch damit identifizieren zu können, … und meinen jugendlichen Visionen offensichtlich treu geblieben zu sein.

Und was meinen heutigen konkreten Lebensalltag betrifft: Aktion ODER Kontemplation? Was habe ich tatsächlich und aktiv beigtragen zu einer „menschlicheren“ Welt? Und was kommt jetzt? Man möchte meinen, die nachberufliche Lebensphase sei in erster Linie und zunehmend der Kontemplation gewidmet. Offenwerden für Zu-Fälle. Sich Zeit nehmen für Begegnungen. Inne-Halten im blossen Sein, im Nachdenken. Freude und Dankbarkeit spüren.
Im Rückblick auf das „Corona-Jahr“, im Rückblick auf die ersten beiden Jahre im Status als freischaffender „Frührentner“, wird mir sehr deutlich: „das Beste ist schon da“. Ich geniesse das Privileg, meine Zeit vollkommen frei einteilen zu können, mich ausschliesslich und ehrenamtlich für jene Themen zu engagieren, die sich der neoliberalen Profitlogik entziehen und nachhaltigen Zielen verpflichtet sind. Und ich geniesse die wunderbaren Momente und Erlebnisse in der Natur, die beglückenden und inspirierenden Begegnungen und die bereichernden Gespräche mit verschiedensten Menschen. Und danach die Phasen der Stille, der Vertiefung, des Nachdenkens …. welches wieder zum Vorausdenken wird. So wünsche ich mir, möge es ins neue Jahr weitergehen: Aktion UND Kontemplation.

Rose Ausländer wusste dies unübertroffen auszudrücken (in Text und Ton auf lyrikline.org):

Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

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