Schon letztes Jahr hatte ich mir Gedanken gemacht über die heutigen Lebensbedingungen in Italien. Zu offensichtlich, dass Italien nicht einfach mehr das Sehnsuchtsland von früher ist, welches vor allen Dingen Lebensfreude und Herzlichkeit, Pasta und Gelati, Kunstsinn und üppige Natur in sich vereint. Auch in Italien sind neoliberales Profitdenken und globalisierter Konsumwahn angekommen. Das italienische Naturell macht es dabei nicht einfacher: Roberto Saviano geht dem auf den Grund im Buch „Erklär mir Italien“ (mein Blogbeitrag vom 18.9.2019).
Im Workaway-Einsatz bei Antonio erleben wir direkt und authentisch, was es heisst von „struktureller Armut“ betroffen zu sein.
Wenn trotz eigenem Landwirtschaftsbetrieb mit etwa 6 Hektaren Land und viel Arbeitseinsatz keine Aussicht auf eine einigermassen entspanntes Auskommen besteht, wenn man hauptsächlich von eigenem Gemüse und Reis lebt, weil es gar nicht weiter reicht, dann stimmt wohl etwas nicht.
Zum sehr bescheidenen Auskommen kommt noch die Erfahrung eines mehr oder weniger korrupten Verwaltungsapparates, einer mehr schlecht als recht funktionierenden Infrastruktur und steigender Abgaben. Auf diesem Hintergrund wirkt Antonios Aussage „sono stanco“ mehr als verständlich.
„la pensione della madre fa 300 Euro par mese, non e sufficiente per vivere, e troppo per morire“
„non poi lasciare la macchina nel uliveto durante il tempo di pranzo, per que li rubano tutti li attrezzi e tutte le macchine“
La politica: „hanno distrutto tutto, la coherenza sociale, l’equilibrio nella natura, li condizione climatici, il mare, l’aire, li tradizioni del altro tempo, … tutto“
In einem gemeinsamen Effort sind wir daran, den vielen Abfall auf seinem Gelände zusammenzutragen, zu sortieren und nachher (hoffentlich) einer Rezyklierungsanlage zuzuführen. Was aber noch nicht automatisch heisst, dass dann auch fachgerecht recyclet oder entsorgt wird. Renata hat soeben von einer Nachricht erzählt, wonach alleine im Mittelmeerraum hunderttausende Tonnen Plastikabfall im Meer landen.
https://www.wwf.ch/de/unsere-ziele/verschmutzung-der-meere
Das Bewusstsein für Umweltschutz ist hier in Italien ganz unterschiedlich ausgeprägt. Doch sei nicht vergessen, dass wir vor 40 Jahren auf einem Emmentaler Bauernhof auch noch erlebt hatten, wie Fässer mit Altöl und ausgediente Fahrzeuge ziemlich unbekümmert am eigenen Waldrand entsorgt wurden.
Kein Wunder, dass Antonio mit seinen Bio-Produkten sich in dieser Gegend noch keinen verlässslichen Kundenstamm erschliessen konnte. Und dass seine Versuche, das Land ohne Gift zu bewirtschaften, noch weitgehend Kopfschütteln hervorrufen.
Wenn unser Einsatz einen kleinen Beitrag leisten konnte, dass wieder etwas Zuversicht und Hoffnung, etwas „Durchblick“ und Energie entsteht, dann können wir zufrieden sein.
Was sich nicht auflösen lässt: unser Privileg, einen solchen Ort auch wieder verlassen zu können und uns neuen Erfahrungen öffnen zu dürfen. Antonio dagegen bleibt gebunden … mit wenig Aussicht auf Besserung oder gar „Befreiung“ aus strukturellen Bedingungen, die Armut verstärken. Da mag unsere Freiheit, das zu tun was uns sinnvoll scheint und Spass macht, geradezu unverschämt wirken.