Süditalien 2019 – Wochenbericht 5

Borgo Piazza – zu Deutsch heisst dies eigentlich „Dorfplatz“. Hier in Kalabrien ist das ein vielfältiges Anwesen mit einem grosszügigen und ansprechenden Agriturismo-Beherbergungsbetrieb. Das ist aber auch ein 44-Hektaren-Grossgrundbesitz auf sanft geschwungenem hügeligem Gelände, das sind weitläufige Olivenbaum-Anlagen, Mandarinen- und Orangenplantagen, Hänge mit Mandelbäumen, Weingärten, Weiher als Wasserspeicher, Pferdeweiden und Gemüsegarten. Ein äusserst initiativer Unternehmer und Patriarch hat dieses Anwesen aufgebaut und geprägt, bevor er 84-jährig mit einem kleinen Bagger auf seinem Gelände tödlich verunfallte.

Elvira, eine der Töchter, hat diesen Betrieb nach dem Unfall des Vaters vor fünf Jahren übernommen. Als Pädagogin und Betreiberin eines Kinderhorts war dies für sie ein grosser und herausfordernder Schritt. Dies umso mehr, als sie mit ihrer früheren Widerständigkeit gegen das Patriarchat sich plötzlich und unvermittelt mit einem Rollenwechsel konfrontiert sah. Als Chefin und Stiftungsrätin verkörpert sie nun selbst die Grossgrundbesitzerin – vom Patriarchat zum Matriarchat, wie sie selbst sagt.

Bei unserer Ankunft kommt uns auf dem Gelände eine kleine, quirlige und hellwache Frau entgegen, die mit klarer auffordernder Stimme fragt „qui siete voi? wer seid ihr?“. Sie ist im Schuss und muss an diesem Sonntagabend noch weg zu einer Sitzung. Schnell ist jedoch geklärt, dass wir diejenigen sind, die fünf Tage zuvor eine Workaway-Anfrage gesendet hatten – ohne eine Antwort zu bekommen. Nun sind wir halt trotzdem da. Kein Problem, „euch hat der Himmel geschickt“ wie sie uns bedeutet und sogleich wird uns eine leerstehende Ferienwohnung gezeigt und zugesprochen. Noch am selben Abend und anderntags werden wir mit zahlreichen Früchten vom Hof eingedeckt, mit Grundnahrungsmitteln aus der Restaurant-Küche, mit Wein, Olivenöl, Honig, selbstgebackenem Brot und vielem mehr versorgt.

Wir erleben eine grossartige Gastfreundschaft, eine unglaubliche Offenheit und ein grosses Vertrauen. Es ist wohl eine Art „positiver Zuschreibung“, wenn Elvira sofort formuliert, sie wolle unsere Erfahrung in der theologischen, sozialen und pädagogischen Arbeit nutzen und wir sollten ihr doch gleich konzeptionelle Grundlagen erstellen für ihre Projekte, für die Gründung einer „Comunità laudato si“ und darin für die kirchlich-pädagogische Unterrichtsarbeit im Sinne der päpstlichen Enzyklika „laudato si“ zur Ökologie-Thematik. Sie ist durch und durch begeistert, ja infisziert vom Gedanken, der „educazione integrale“ im Sinne einer nachhaltigkeits- und erlebnis-/erfahrungsorientierten Pädagogik zum Durchbruch zu verhelfen.

Für mich beginnt ein sehr spannender Prozess, bei dem sich Gespräche, Beobachtungen, Denkarbeit und Handarbeit abwechseln. Es tut gut, die Gedanken zwischendurch bei der Olivenernte, beim Lavendel-Schneiden, beim Brennholz-Beigen, beim Gartenmobiliar versorgen oder beim Strassenwischen wieder erden zu können. Elvira bringt in ihrer Impulsivität stets wieder neue Dimensionen, neue Informationen, neue Menschen und gar neue Projekte ins Spiel. Hier eine angemessene Übersicht zu gewinnen, stellt für mich zunächst eine ordentliche Herausforderung dar. Nun, nach zwei Wochen des Denkens und Formulierens, der Diskussion, Inspiration und Reflexion, zeigt sich Klarheit am Horizont.  Einige Aspekte und Vorhaben haben sich von selbst erledigt, meine Notizen und Impulse sind jetzt eingegrenzt, nun kann die Ausformulierung einer „metodologia della educazione integrale“ beginnen. Die Eckpunkte dabei: im Rahmen dieses Pilotprojektes s:oll ein Vorschlag formuliert werden, wie die strukturellen Rahmenbedingungen für den Katechismus-Unterricht angepasst werden könnten: Blockunterricht in kleinen Gruppen, im naturnahen Gelände des Borgo Piazza, mit radikal erfahrungsorientiertem Ansatz, Hand-Herz-Kopf (in leichter Abwandlung von Pestalozzis Dreisatz), mit klaren Räumen der gemeinsamen Reflexion, des gemeinsamen forschenden Dialogs und einer entsprechenden Gesprächskultur.  

Dies alles mit meinem dürftigen Italienisch zu bestreiten, fordert mich und auch die GesprächspartnerInnen. Es ist aber gleichzeitig bestimmt eine Chance: die sprachliche Einschränkung zwingt uns zu grösstmöglicher Einfachheit, zum ständigen Ringen um Klarheit, zum geduldigen Nachfragen und Wiederkäuen.  Dem Dialog mit Kindern gar nicht unähnlich. Im Rahmen dieses Prozesses lerne ich viele interessante Menschen aus der Kirchgemeinde kennen, werde zu Sitzungen dazu gerufen, kann an Unterrichtsstunden, Gottesdiensten und gar an einer Katechese-Weiterbildung im Pfarreiheim in Squillace teilnehmen.

Renata und ich unternehmen dazwischen auch den einen oder anderen Nachmittagsausflug: am Samstagabend nach Martini fahren wir nach Soverato, wo abends eine „festa dell san martino“ gefeiert wird, mit historischen Vorführungen, bei Glühwein, Kastanien, Panino&Salsicca und neuem Wein. Dass wir uns zur Einstimmung wie auch zum Abschluss noch eine Gelati gönnen, enttarnt uns definitiv als Schweizer: die Auswahl ist mit drei Sorten saisonbedingt sehr klein geworden.

Der sonnige Mittwochnachmittag ist wie geschaffen für einen Ausflug durch die Hügellandschaft nach Borgia und zum Bergdorf Squillace. Unterhalb der Normannenburg in Squillace treffen wir auf die Bar Chiosco La Castellana. Der Besitzer Mimmo ist daran, alles einzuwintern – ist aber auch spontan bereit, uns einen Kaffee zu kochen. Ein Stück Kuchen von seiner Schwester gibt’s noch so dazu. So originell wie die Bar ist auch das Gespräch mit Mimmo, dessen Vater jahrzehntelang in Buchs SG gearbeitet hat: „grüezi“ und „schaffe“ ist ihm noch geläufig. Anschliessend erkunden wir den sympathisch verwinkelten Ort, der nach den griechischen Kriegen und Überfällen einst vom Meeresufer auf diesen steilen und damit geschützten Hügel zurückverlegt worden ist.

Am zweiten Samstag besuchen wir das 27km entfernte Bergdorf Tiriolo. Dieses liegt auf rund 700müM, an der engsten Stelle des italienischen Stiefels und vermittelt eine einzigartige Aussichtslage: von der Terrasse des Restaurant DueMari aus ist links das jonische Meer und rechts das thyrhennische Meer zu sehen. Von Süden her ist die zweitätige Scirocco-Welle im Anmarsch, faszinierende Wolkengebilde und Windströmungen sind zu beobachten … und in der Ferne können wir zeitweise gar die Insel Stromboli ausmachen. Das dieses Restaurant auch noch eine hervorragende Küche mit wunderschön angerichteten kalabresischen Spezialitäten bietet, macht den Moment perfekt. Tiriolo bietet einen gut positionierten Stellplatz mit wunderschöner Aussicht, ein äusserst sympathisches Bergstädtchen-Flair, freundliche Menschen, pittoreske Gassen, eine reiche Tradition an Webarbeiten (verbunden mit der früher traditionellen Seidenraupenzucht im nahegelegenen Catanzaro), ein ansprechendes Volkskundemuseum und ein spannendes Archäologie-Museum. Kategorie: unbedingt einen Abstecher wert.

Nach Abschluss unserer ersten Woche kam Charlotte aus Berlin als weitere Workawayerin dazu. Die nahezu 40 Jahre Altersunterschied hindern nicht, dass wir bei oder nach den gemeinsamen Mahlzeiten uns ab und zu in äusserst spannende und anregende Gespräche verlieren: Konstruktivismus, systemische Denkansätze, Minimalismus, Reisen und Abenteuer, Kommunikation und Pädagogik etc. sind unsere Themen. Beim Marronibraten am Kaminfeuer lässt sich trefflich reflektieren und philosophieren. Und auf Deutsch fällt uns dies immer noch deutlich leichter.

Die Bilder zum Wochenbericht 5

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