Kurz vor unserer Abreise im März erhielten wir ein interessantes Buch geschenkt. Jetzt nach unserer Rückkehr komme ich dazu, es zu lesen: Navid Kermani, Entlang den Gräben – eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan, C.H.Beck-Verlag, 2018
Navid Kermani ist im Auftrag des SPIEGEL von seiner Heimatstadt Köln durch den Osten Europas bis nach Isfahan, die Heimat seiner Eltern gereist. Am sechzehnten Tag, an der Grenze von Weissrussland zur Ukraine beschreibt er eine Begegnung, die mich in ihrem Gehalt besonders anspricht und deren Fragen mich bei unserem Reiseprojekt auch begleiten:
(S.106) „Nach und nach stellt sich die Illusion ein, die ich sonst nur von fernen Ländern kenne: der erste zu sein, der einen neuen Kontinent betritt. Etwas von diesem Gefühl muss auch den jungen Schriftsteller Andrej Horwath ergriffen haben, der in ein winziges Dorf nahe der Grenze gezogen ist und in einem vielgelesenen Blog von seinem neuen Leben erzählt. Auf dem offenen Feuer hat er Gemüse, Eier und Kartoffeln für uns gekocht.“ ….
(S.110) „Ich sage Andrej, dass es Menschen wie ihn brauche, die gewissermassen übersetzen. Ohne ihn hätte ich, hätten nicht einmal meine Begleiter aus Minsk einen Zugang zu dieser dörflichen Welt am Rande Europas gefunden. … <Ja, aber man muss länger bleiben, wenn man verstehen will> gibt er zu bedenken. <Das stimmt>, antworte ich. <Aber manches versteht man auch erst, wenn man reist, nicht wenn man bleibt.> <Kann sein>, sagt Andrej Horwath, der wegen seiner Ziege immer nur für einen Tag verreisen kann.“
Diese Polarität zwischen Bleiben und Gehen! Ich kenne dieses Spannungsfeld gut. „Was treibt Dich denn so heftig von Trogen weg“, hat mich kürzlich ein Freund gefragt. Nichts, das mich wegtreiben würde; jedoch zieht es mich immer wieder in die Ferne, über das Wohlbekannte hinaus, ich suche die Begegnungen mit dem Neuen, den Blick über den Gartenzaun, die Neugier und die Offenheit für das Zu-Fallende, das Über-Raschende. Ob man dazu tatsächlich den Ort verlassen und sich physisch wegbewegen muss? Vielleicht wäre das gar nicht unbedingt nötig und ich hoffe, dass ich diese Fähigkeit auch dann noch leben kann, wenn ich vielleicht mal nicht mehr mobil bin. Derzeit geniesse ich es jedoch, gesund und unternehmungslustig losziehen zu können.
Und wie steht es um die Fähigkeit zu verstehen? Zweifellos müsste ich an manchem Ort länger bleiben, wenn ich tatsächlich „Verstehen“ wollte. Vielleicht reicht es für’s Erste, sich der Begegnung zu öffnen, sich zu interessieren, sich betreffen zu lassen – und neue Anregungen mitzunehmen.
Aus meiner beruflichen Tätigkeit kommt mir diesbezüglich die „Open-Space-Methodik“ von Harrison Owen in den Sinn. Er entwickelte diese Methodik der Grossgruppen-Moderation, nachdem er herausgefunden hatte, dass die produktivste Phase an Kongressen stets die informellen Begegnungen und Gespräche während der Pausen seien. Deshalb entwickelte er eine Kongress- und Gesprächsform, bei der „Pausen-gespräche“ (in Form zahlreicher strukturierter Gesprächskreise) im Zentrum stehen. In dieser Kreismethodik gibt es auch die Rolle von „Schmetterlingen“ und „Hummeln“, welche von Kreis zu Kreis fliegen, zuhören, da und dort eine Anregung hineingeben und nach einer gewissen Zeit auch wieder weiterfliegen – und den nächsten Kreis mit einem Impuls befruchten. Mehr Hummeln also – auch und gerade in Zeiten eines offenbar dramatisch zunehmenden Insektensterbens.
Charakterisierungen des Buches im Klappentext:
„Ein immer noch fremd anmutendes, von Kriegen und Katastrophen zerklüftetes Gebiet beginnt östlich von Deutschland und erstreckt sich über Russland bis zum Orient. Navid Kermani ist entlang den Gräben gereist, die sich gegenwärtig in Europa neu auftun: von seiner Heimatstadt Köln nach Osten bis ins Baltikum und von dort südlich über den Kaukasus bis nach Isfahan, die Heimat seiner Eltern. Mit untrüglichem Gespür für sprechende Details erzählt er in seinem Reisetagebuch von vergessenen Regionen, in denen auch heute Geschichte gemacht wird.“ / „ein grossartiger Reporter – neugierig, offen und schwer zu ermüden“ (FAZ) / „Als Grenzgänger zwischen den Genres, der ebenso die Kunst des Romanschreibens beherrscht wie die glasklare Sprache des Essays, schafft Kermani Texte von poetischer Kraft und analytischer Einsicht.“ (NZZ)