Du-Kultur

Um sechs Uhr läuten die nahen Kirchenglocken den Tag ein. Obwohl ich erst um ein Uhr das Licht gelöscht hatte, liege ich bereits wach – und sehe durch die Erker-Fenster, dass sich nach den eher trüben wieder ein sonniger Tag ankündet. Die vielen Vogelstimmen aus dem Schlossgraben scheinen die Wahrnehmung zu bestätigen. Es zieht mich zu einer frühmorgendlichen Radtour. Waren die Kirchenglocken nun Störung oder Einladung? Ansichtssache.

Eine tau-nasse Sitzbank in der Morgensonne, am Rande eines Roggenfeldes. Der Blick geht zum Blumenfelder Kirchturm, die Mücken schwirren. Ich nehme die Iso-Sitzunterlage aus dem Rucksack und setze mich trotzdem. Beim Verweilen und Nachdenken hüllen mich vielfältige Geräusche ein: es schwirrt, gurrt, klappert. ich höre Flügelschlagen, die ferne Stimme einer Spaziergängerin mit ihrem Hund, unzählige Vogelstimmen, entfernt ein Auto, am Kirchturm schlägt’s dreiviertel. Die Mücken sind überhaupt nicht lästig und die Spatzen kommen mir schon erstaunlich nahe. Per Sie oder per Du mit der Natur? Ansichtssache.

Am Abend zuvor das Gespräch bei der Tischrunde im Innenhof: wie halten es die Menschen im ländlichen Hegau mit der Du- bzw. Sie-Kultur? Jane vermutet, dass die Sie-Kultur – im Gegensatz zur Schweiz – in Süddeutschland sehr ausgeprägt und Ausdruck gegenseitigen Respekts sei. Neigt das Du per se zu schnöder Anbiederung, zu Überheblichkeit und Distanzlosigkeit? Existiert Respekt nur in der Sie-Kultur? Ansichtssache.

Da kommt mir die besondere Begegnung vor zwei Wochen in den Sinn: ich spreche den Inhaber eines grossen Holzbaubetriebes aus der Region mit „Herr Nägeli“ an, da ich mich soeben an einen kurzen geschäftlichen (per-sie-)Kontakt mit ihm erinnere, bestimmt ein Jahr zurück. „Der Herr ist im Himmel und ich bin der Hannes“ tönt es entschlossen zurück.
Dieses Du ordnet sich in ein größeres Ganzes ein. Es geht davon aus, dass es noch Bedeutsameres gibt als seine/meine/unsere menschliche Existenz. Dieses Du möchte Kontakt auf Augenhöhe – und zeugt gleichzeitig von Respekt und Bescheidenheit. Ich fühle mich wohl.

Gewiss, ich habe größte Vorbehalte gegenüber althergebrachten patriarchalen Gottes-Vorstellungen. Jede Art von Ver-Herr-lichung ist mir zutiefst zuwider. In diesem Wortspiel, dieser Begegnung jedoch kann ich eine Haltung erkennen, die mir sehr sympathisch ist. „Was auch immer da draussen noch sein mag, es ist auf jeden Fall grösser und bedeutsamer als ich.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.