Das Gewicht der Worte – der neue Roman von Pascal Mercier

Das Gewicht der Worte

Wieder mal fasziniert am Lesen. Tatsächlich, Worte haben Gewicht. Worte schaffen Wirklichkeit. Worte erzeugen Lebenswelten. „Am Anfang war das Wort“ – dieses biblische Diktum wird in Merciers Roman leibhaftig spürbar. Das Buch macht Lust, sich den eigenen Lebensrahmen in Worten neu abzustecken, die eigenen Lebensräume verbal neu einzurichten … und die eigene Zukunft neu zu schreiben. Was könnte Literatur denn Besseres bieten als eben diesen Impuls.

Seit seiner Kindheit ist Simon Leyland von Sprachen fasziniert. Gegen den Willen seiner Eltern wird er Übersetzer und verfolgt unbeirrt das Ziel, alle Sprachen zu lernen, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden. Von London folgt er seiner Frau Livia nach Triest, wo sie einen Verlag geerbt hat. In der Stadt bedeutender Literaten glaubt er den idealen Ort für seine Arbeit gefunden zu haben – bis ihn ein ärztlicher Irrtum aus der Bahn wirft. Doch dann erweist sich die vermeintliche Katastrophe als Wendepunkt, an dem er sein Leben noch einmal völlig neu einrichten kann. Wieder ist Pascal Mercier ein philosophischer Roman gelungen, bewegend wie der „Nachtzug nach Lissabon.“ (Klappentext)

„Vorsichtig, behutsam lässt Pascal Mercier seinen Protagonisten sein literarisches Potential entdecken. Dabei beweist er sein eindrucksvolles Gespür für sprachliche Nuancen. … Ein hochgradig reflektierter Roman, der nicht nur die Geschichte eines erwachenden Autors, sondern eines sich völlig neue erfindenden Menschen erzählt..“ Anja Dalotta, Norddeutscher Rundfunk, 22.01.20

„Als Schriftsteller, nah an Proust, entfaltet Mercier anhand einer Figur, was die Zeit anrichten kann. Als Philosoph Bieri entwickelt er Fragen, die einen lange beschäftigen können. Wie ist es, sich selbst zu fühlen? Was habe ich aus der Zeit meines Lebens gemacht?“ Christine Richard, Tages-Anzeiger, 26.01.20

Hier noch einige Passagen, die mich spontan besonders berührt hatten
Simon Leyland am Krankenbett der befreundeten hochbetagten Verlegerin Lynn:

„Dass ich die geschäftliche Last los bin, darüber bin ich nicht unglücklich. Und was mein Leben nun für eine Form annehmen wird: Ich weiss es noch nicht, ich tast mich durchs Ungewisse, im Äusseren wie im Inneren.“ (S. 274) Er formuliert eindringliche Gedanken zur Rolles des Übersetzers und zu dessen Verhältnis zum Autor, denn „niemand liest so genau wie der Übersetzer“. (S. 276)
Dieses Ringen um Absicht und Be-Deutung, dieses subtile Schillern der Nuancen, wird spürbar im Übersetzungs-Fragment eines Satzes von Cesare Pavese: „E bello scrivere perché riunisce le due goie: parlare da solo e parlare a una folla. The beauty of writing is, that it unites the two joys: speaking to yourself and speaking to a crowd. Schreiben ist schön, weil es die beiden Freuden vereint: zu sich selbst und zugleich zu vielen anderen zu sprechen.“ (S. 275)

„Weisst Du, an was mich diese neue Wendung der Dinge erinnert? An ein Geländer das wegbricht, und nun merke ich, dass ich es eigentlich nie brauchte.“ (S. 284)

„Die falschen Bilder im falschen Umschlag!“ (S. 291)
Manchmal erscheint das Leben als Ergebnis von Verwechslung: beliebig. zu-fällig. Um im nächsten Moment mit einem Stolpern ungeahnte und richtungweisende Bedeutung zu erlangen. „War es gut, dass der unaufhaltsame Fortgang der Zeit die Bedeutung und Wichtigkeit aller Dinge veränderte, eine Veränderung, die vor allem eine Veränderung in einem selbst war? Und wenn man den Impuls spürte, sich dagegen aufzulehenen: was war es, was man sich statt dessen wünschte?“ (S. 304)

Der Roman im Roman: Leylands innerer Weg vom Übersetzer zum Schriftsteller wird hochreflektiert nachvollziehbar, wenn dieser seinen Protagonisten Louis Fontaine entstehen lässt: „Fontaines Erfahrung, dachte er, war tiefer, umfassender: Es ging um das Leben insgesamt, um die Wiederkehr von Gefühlen der verschiedensten Art und um den Verlust der Neugierde auf sich selbst. ‚Ich mache keine neuen Erfahrungen mehr mit mir.‘ – das war einer der ersten Sätze gewesen, die er, noch in Triest, Fontaine hatte denken lassen.“ (S. 537)
„Wie wenig die Natur uns Menschen braucht. Wie selbstgenügsam sie ist. Der Wunsch, einfach sitzen zu bleiben bis zum Erlöschen.“ (S. 540)
„Erfahrungen mit Worten einkreisen im Bewusstsein, dass die Worte nie wirklich treffen und an den stummen Erfahrungen abgleiten. … Ist es am Ende so: Dadurch, dass man im sprachlichen Erfassen des Erlebens scheitert, wird man gezwungen dieses Erleben wirklich genau kennenzulernen und seine inneren Konturen zu erspüren.“ (S. 555)
„Die Phantasie – das spüre ich so deutlich in diesen Tagen – ist der eigentliche Ort der Freiheit.“ (S. 556) Und
„Warum müssen wir es hinnehmen, dass es unsere Krankheiten sind, die darüber entscheiden, wann das Leben zu Ende ist? Warum betrachten wir es nicht als das selbstverständliche Recht eines jeden, selbst darüber zu bestimmen? Und warum gilt es nicht als guter, als schlüssiger Grund, wenn einer dazu sagt: weil es jetzt einfach genug ist?“ (S. 564)

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