Würde ja gerne nur schwärmen und positiv berichten – von einem pittoresken Italien voller Üppigkeit, Lebensfreude und kulinarischer Genüsse. Geht nicht: zu viele Widersprüchlichkeiten, die uns derzeit herausfordern. Von weit verbreiteter Unorganisiertheit und vom allgegenwärtigen Dreck brauche ich nicht mehr zu schreiben. Deshalb diesmal ein für uns gänzlich neues und nicht weniger irritierendes Thema: Frühmorgens, vor und während des Sonnenaufgangs, ein wiederholtes Knallen. Mal näher beim Hof, mal über dem Gemüsegarten oder überm Olivenhain. Manchmal auch tagsüber oder kurz vor Sonnenuntergang.
Ja, es habe Jäger in der Nähe; und ja, es werde überall gejagt, ohne dass sich jemand um Grundstücksgrenzen und Gemüsekulturen kümmern würde, erklärt Antonio. Er selbst verabscheut die Jägerei, isst eh kaum Fleisch und wenn dann nur das eigene Schweinefleisch, aber er könne dagegen nichts ausrichten.
Später erfahren wir, dass die VOGELJAGD jeweils mittwochs, samstags und sonntags erlaubt sei. Und als es frühmorgens nach ebensolcher Knallerei plötzlich aus sonnigem Himmel auf das Autodach regnet, wird uns klar, dass hier mit Schrot geschossen wird. Bleischrot, und das noch 2020! Das relativiert die Absicht biologischer (bzw. chemiefreier) Gemüseproduktion radikal. Und überhaupt: dass heute noch legal Vögel geschossen werden dürfen, will mir nicht in den Kopf.
Aufschlussreiches zur Vogeljagd in Italien erfahre ich dann etwa hier:
„Wer zur Jagdausübung berechtigt ist, darf alle nicht geschützten Vogelarten schießen. Dazu errichtet er z.B. hier bei uns in der Provinz Pavia zunächst einmal die ca. 2×2 Meter große „Jagdhütte“ am Rande einer Heuwiese, (sehr zur Freude der lokalen Besitzer natürlich, die so das meist nutzlose Stückchen Land verpachten können), mäht das Gras um die Hütte herum schön kurz und hängt die winzigen Käfige mit den Lockvögeln in die Bäume am Feldrand. Sodann setzt er sich bequem in der Hütte zurecht, wo vielfach ein kleiner Gaskocher, Kaffee, Zucker und ähnliche Kleinigkeiten das Warten erleichtern, lädt sein Gewehr und zielt auf die in Scharen eintreffenden Vögel, für die er im nahen Umkreis freundlicherweise eine Tränke und viele bequeme Äste zum Ausruhen bereitgestellt hat…“ (Quelle: http://www.sabinemiddelhaufeshundundnatur.net/jagd/italien9.htm / 09.11.2020)
„Was (die) gesetzlichen Vorgaben in Italien anbetrifft, stellte Fulco Pratesi, 1. Vorsitzender von WWF Italien Ende 2004 folgende Rechnung auf: ein Jäger darf laut einiger regionaler Abschußpläne pro Jagdtag 25 Zugvögel (z.B. Drossel und Lerche), 5 Enten, 15 Wachteln, 15 Turteltauben, 15 Ringeltauben und 3-5 Schnepfen schießen. Berücksichtigt man nun die Anzahl der Jagdtage für jede dieser Arten, die Anzahl der Jäger in einer Region kommt man etwa für Piemont mit seinen 37.000 Jägern auf den erlaubten Abschuss von fast 29 Millionen Wachteln, ebenso vielen Turteltauben, 10,5 Millionen Enten (185.000 pro Jagdtag), über 38 Millionen Lerchen und 50 Millionen Drosseln. „Das heißt, in einer einzigen Region wird eine „Ernte“ autorisiert, die bei weitem größer ist, als der Bestand der Fauna in Europa.“ (Quelle: blog di Fulco Pratesi / Text: 2007)
Während im n(m)ördlichen Italien (Lombardei, Piemont, Venetien, Toskana …) gerne mit Lockvögeln und damit stationär gejagt wird, sind die Jäger hier in Apulien meist „streunend“, einzeln oder in Kleingruppen, unterwegs. Ob es sich um Selbstversorgung, um ein einträgliches Geschäft oder bloss um ein sinnloses Freizeitvergnügen handelt, entzieht sich meiner Kenntnis. Bedenklich ist es allemal, denn – ich lese weiter:
„Traditionell bestehen Schrotkugeln aus mit Arsen und Antimon legiertem Blei, wobei aus Gründen des Umweltschutzes dieses giftige Schwermetall zunehmend durch andere Materialien abgelöst wird. In einigen Ländern existieren mittlerweile Verbote von Bleischrotmunition. So wurde zum Beispiel in Norwegen zum 1. Januar 2005 die Nutzung von bleihaltiger Schrotmunition für die Jagd generell verboten; jedoch wurde dieses Verbot im Juli 2015 so geändert, dass die Nutzung von bleihaltiger Schrotmunition für die Jagd auf bestimmte Tierarten wieder erlaubt wurde.“
(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schrotkugel)
Unnötig zu betonen, dass hier in Italien die „Tradition“ eh mehr Gewicht hat als das Gesetz.
Solche Erfahrungen entzaubern unsere Italien-Idealbilder; da kommt gar regelrechte Empörung auf. Und auch das „Rückständigkeits-Argument“ („es brauche halt noch Zeit, bis ökologisches Bewusstsein auch hier angekommen ist“) vermag mich nicht mehr milde und geduldig zu stimmen. Schliesslich sind dieselben Menschen ja nicht rückständig, wenn es um die neusten Smartphones, Autos, Drohnentechnologie, Konsumartikel und Mediengebrauch geht. Man könnte sich schon informieren und ein ökologisches Verantwortungsgefühl entwickeln; wenn man denn wollte. Gleichgültigkeit, Sippen-Egoismus, Dummheit also? Na ja, „im Stiefel“ ging schon mal eine Hochkultur vor lauter Dekadenz kläglich zu Grunde.
Nach den ersten Emotionen habe ich mich an den Laptop gesetzt und zu recherchieren begonnen. Und siehe da: in Italien gibt es auch die andere Seite, eine Organisation die kostenfreien Rechtsbeistand leistet im Kampf gegen die Jagd (LAC – lega abolizione caccia), eine Organisation („jagt die Jäger“, caccia il cacciatore) die das antiquierte Jagdgesetz bekämpft und einem zeitgemässen Naturschutz-Gedanken zum Durchbruch verhelfen möchte.
Und schliesslich das Lied „l’ultimo degli uccelli“ von Adriano Celentano – engagiert, realistisch, ernüchternd und ohne happy-end.
Das Lied auf youtoube
Der Liedtext in italienisch und deutsch
Umso wichtiger für mich, um die jungen und inspirierten Wandelprojekte zu wissen, die es glücklicherweise auch gibt in diesem Land wie etwa www.capraunica.it (ein ligurisches Bergdorf wird wiederbelebt) oder www.nidodiseta.it (in einem kalabrischen Dorf wird die einst traditionelle Seidenraupenzucht durch eine junge Kooperative wiederbelebt). Doch welchen radikalen Tsnumai braucht es wohl, um diesen Hoffnungs-Projekten endlich zum Durchbruch zu verhelfen? Angesichts von globaler Klimakrise und weltweitem Flüchtlingselend natürlich eine globale – und nicht nur italienische – Existenzfrage.