„Ich brauche nicht mehr“

„Ich brauche nicht mehr“ von Ines Maria Eckermann, Tectum Wissenschaftsverlag 2019
I.M.Eckermann gibt mit diesem umfangreichen Buch einen guten Abriss über einen anspruchsvollen Themenbogen: Glück und Lebenskunst in der antiken, griechischen Philosophie, die keineswegs neue Sucht des „immer mehr“ (Pleonexia), welche sie als dem Kapitalismus und Konsumismus eigen beschreibt. Schliesslich wird detailreich und unterhaltsam dargelegt, welche Rolle Medien und Marketing in einer kapitalistischen Welt einnehmen. Dass die sattsam bekannten „Grenzen der Wachstumsgesellschaft“, die Ressourcenknappheiten sowie die Umweltbelastungen ein Umdenken erfordern, wirkt heutzutage recht offensichtlich und nachvollziehbar. Die Autorin liefert viele konkrete Ideen und Tipps zu einem minimalistischen, rücksichtsvollen und nachhaltigen Lebensstil und plädiert für eine Konsumgelassenheit. Wenn der Schreibstil zuweilen auch etwas salopp und leichtfüssig daherkommt, so sind die Gedankengänge jedenfalls umfassend und fundiert und das Buch liest sich locker. I.M.Eckermann scheut nicht zurück vor sehr kritischen Gedanken zum zuweilen paradoxen Verständnis von Arbeit und sie hat viele ihrer Anregungen auch selbst ausprobiert. Vor allem die fundierten Bezüge zur griechischen Philosophie scheinen mir sehr erhellend und einleuchtend und machen deutlich, dass die Suche nach Glück, Erfüllung und Gelassenheit alle Kulturen durchdringt; Lebenskunst als ur-menschliches Thema.

Das ist eines jener Bücher, das ich eigentlich selbst hätte schreiben wollen … (-;
Die Auseinandersetzung mit dem in unserer Gesellschaft tradierten Verständnis von Zeit-Wert-Arbeit beschäftigt mich schon seit meiner Studienzeit. Die Initiierung des lokalen Tauschmarktes „Zeitladen Trogen“ vor gut 20 Jahren war ein konkretes Ergebnis daraus.

Hier eine Leseprobe zum Thema Zeit:

Übergenug Leben
„Wir leben aus dem Vollen, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben, als könnte er nie zu Ende gehen“, schrieb die Schriftstellerin Christa Wolf in Der geteilte Himmel . Wir haben aber nicht übergenug davon. Eben das ist es, was unser Leben so kostbar macht: Unsere Zeit ist begrenzt. Aber was ist dieser seltsame Stoff, aus dem unser Leben zu bestehen scheint? Vermutlich denken viele von uns bei Zeit als Allererstes an Dinge, an denen wir die Zeit ablesen können, an Uhren oder den Startbildschirm unseres Smartphones. Wikipedia bringt den Begriff unmittelbar mit der Physik in Verbindung. Im deutschen Sprachraum scheint Zeit etwas Mathematisches und objektiv Messbares zu sein. In der griechischen Antike füllten die Menschen die Zeit mit mehr Leben. Damals war die Zeit personifiziert. Gleich drei Wesen waren nötig, um Zeit überhaupt begreifen und in Worte fassen zu können: Chronos, Kairos und Aion.
Wie es sich für einen richtigen Gott gehört, ist Chronos  aus dem Chaos entstanden. Er hat die lineare, die objektiv messbare Zeit überhaupt erst erschaffen. Vor ihm war alles gleichzeitig, alles schon vorbei, alles noch Zukunft. Nach ihm wurden die ersten Apparaturen zur Zeitmessung auch Chronometer genannt. Kairos  war zwar der jüngste Sohn des Zeus, doch sein Haarwuchs war eher der eines älteren Herrn denn der eines Gottes: Wollte man den vorbeirennenden Kairos aufhalten, indem man ihn an den Haaren festhielt, musste man schnell sein – denn sobald er vorbeigelaufen war, kehrte er den Umherstehenden nur noch seinen kahlen Hinterkopf zu. Deshalb sagen wir bis heute „Die Gelegenheit beim Schopfe packen“. Kairos steht für den günstigen Augenblick und den perfekten Zeitpunkt. Wenn jemand diesen Zeitpunkt immer wieder verpasst und große Schwierigkeiten hat, Entscheidungen zu treffen, sprechen Psychologen auch von Kairophobie. Heute ist Aion  wohl eher als Name für ein koreanisches Computerspiel bekannt. In der Antike verkörperte Aion zwei verschiedene Formen der Zeit: zum einen die heilige, die unendliche Zeit, die Ewigkeit, und zum anderen einen in sich begrenzten Zeitraum, wie die Lebenszeit eines Menschen, eine Generation oder einen Entwicklungszyklus, manchmal auch ein ganzes Zeitalter. Damit steht Aion für den Zusammenhang von Ereignissen. Er stellt die Verbindung zwischen der Vielzahl von Zufällen und Entscheidungen her und formt sie zu einem in sich geschlossenen Ganzen. Manch einer, der besonders schlau klingen will, sagt deshalb statt „seit langer Zeit“, dass etwas „seit Äonen“ so und so gemacht werde. Wenn wir heute von Zeit sprechen, meinen wir meist Chronos – und vergessen Kairos und Aion. Wenn wir gestresst sind, dann ist uns Kairos entwischt. Und genau so arbeiten wir auch: Wir warten nicht auf den perfekten Moment, auf den Geistesblitz, um mit der Arbeit loszulegen. Wir sitzen von 9 bis 17 Uhr unsere Zeit ab. Egal wie produktiv oder unproduktiv wir in dieser Zeit sind. Während wir unseren Blick starr auf Chronos richten, darauf, wie die Zeit vergeht, sehen wir meist nur aus dem Augenwinkel, dass wir nur ein einziges Aion, nur ein Leben haben. Denn es ist nur scheinbar so, als hätten wir übergenug davon. Auch und gerade bei unserer Lebenszeit sollten wir das rechte Maß finden: die Mitte zwischen dem Nötigen und dem Schönen. (S.257/58)

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