Erklär mir Italien! – wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?

Wir stehen in der Vorbereitung zu unserer zweiten grösseren Reise-Schlaufe: mit der Fähre von Genua nach Palermo. Die Spätherbst-Monate wollen wir der Erkundung Siziliens sowie des italienischen Mezzogiorno (Kalabrien, Apulien, Basilikata) widmen und dabei auch wieder beim einen oder andern Workaway-Einsatz in die lokalen Lebenswelten eintauchen.

Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo,
Erklär mir Italien! – wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2017

Eine Freundin hat uns auf dieses spannende Buch aufmerksam gemacht und dieses als Einführungslektüre empfohlen. Warum ist (Süd-)Italien wie es ist? Weshalb einerseits diese ansteckende Herzlichkeit und Lebensfreude – und anderseits dieses ständige Unbehagen bezüglich undurchsichtiger (mafiöser) Absichten?

Der Schriftsteller Roberto Saviano hatte mit seinem Buch „Gomorrha“ eine scharfsinnige und vielbeachtete Analyse über die Machenschaften der neapolitanischen Camorra geliefert – und sich damit eingehandelt, dass er seither inkognito und mit Personenschutz leben muss. Seine Weltsicht ist dadurch massiv pessimistisch (realistisch?) geprägt, seine Lebensqualität durchaus frag-würdig, sein kompromissloser Einsatz für Transparenz und Freiheitlichkeit umso erstaunlicher; und seine Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge bzw. die Hypothesen über die Bedingungen der „italienischen Seele“ sind zumindest bedenkenswert und aufschlussreich. Ich möchte das Buch nicht zusammenfassen. Hingegen wähle ich einfach einige Zitate aus, die mich persönlich anregen und bei mir „hängenbleiben“:

Insbesondere Süditalien hat über Jahrhunderte unzählige verschiedene Kulturen und Herrschaften erlebt und überlebt. „Aber was auf die Einigung von Italien 1861 folgte, war alles andere als eine soziale Revolution. Weder wurde das Land umverteilt, noch profitierten die süditalienischen Bauern vom neu gegründeten Staat – im Gegenteil.“ (S.132) „Die Lebensbedingungen im Süden verschlechterten sich jedenfalls nach der Einheit dermassen, dass zwischen dem Ende des 19.Jh und dem Beginn des 20.Jh mehrere Millionen Süditaliener ins Ausland ausgewandert sind. …. Es hat in der jüngeren Geschichte keinen grösseren Exodus gegeben als den der Italiener. …. Die Italiener haber sich um ihre Revolution gedrückt, indem sie nach der Einigung Italiens ausgewandert sind – vor allem die Süditaliener, aber auch die Ligurer und Veneter.“ (S.134) (Hervorhebung von mir, CP)

„Ist es denn überhaupt noch möglich, Süditalien auf europäisches, besser gesagt, auf nordeuropäisches Niveau zu bringen?“ (S.135) „Für mindestens zwei Generationen ist es verloren. Es gibt allerdings noch eine Hoffnung: das sind die Einwanderer … die jetzt aus Afrika herüberkommen und den Süden bevölkern. …. Wenn man die Türken, Syrer, Kurden, Senegalesen hereinliesse in die Städte, könnte man die Omertà, die eigentliche Kultur der Mafia, ausser Kraft setzen. Und man könnte die alten Traditionen wiederaufleben lassen: Landwirtschaft, Ackerbau, den Anbau von Zitrusfrüchten, von Erdbeeren, Tomaten ….“ (S.136). Saviano verweist an dieser Stelle auf den kalabrischen Bürgermeister Mimmo Lucano und dessen Dorf Riace.

„Bei den Italienern hat sich verständlicherweise viel Frust angestaut, weil sie sich nicht mehr verwirklichen können, weil die Auswanderung das Land aushöhlt, weil es keine Arbeit gibt. Das bringt sie dazu, jeden zu hassen, der Erfolg hat, selbst wenn er nur einen Arbeitsplatz gefunden hat. Die Italiener haben keinen Teamgeist mehr. Besser ein Fremder gewinnt als einer, der dir nahesteht: Denn dann müsstest du dich ja vor dir selbst rechtfertigen, und das geht unter die Haut, das tut weh“. (S.153)

Saviano bedauert, dass es Italien versäumt habe, nach dem Bedeutungsverslust der kommunistischen Ansätze einen pragmatischen Sozialismus aufzubauen. Statt dessen habe sich der Konsumismus als Parareligion etabliert: „Das gilt aber für die ganze Welt: die endlosen Warteschlangen für die Smartphones, die Wochenenden in den Shoppingmalls. Zum Kapitalismus gibt es keine Alternative mehr. Das ist das Drama unserer verlorenen Generation.“ (S.175)
Wenn auch die Welt wohl nicht reif sei für aktive Mitverantwortung: „Die These, die David Van Reybrouck in seinem Buch Gegen Wahlen aufgestellt hat, gefällt mir sehr. Er sagt, man müsse die Wahl abschaffen und zur griechischen Polis zurückkehren: Die politischen Aemter werden per Los vergeben und dann wird im Schichtwechsel regiert.“ (S.176)

Italien vergisst alles. „Es vergisst, es lässt sich kaufen, lässt sich verführen, verliebt sich und wird sofort betrogen, aber es hört dennoch nicht auf, sich zu verlieben. Diese Nachsichtigkeit macht Italien so sympathisch. Aber sie ist eben auch der Grund, weshalb das Land nie ernsthaft aufräumt mit seinen alten Fehlern.“ (S.191)

Hast Du eigentlich auch Italiener getroffen, von denen du richtig begeistert warst?“ Aber natürlich, viele. Richtige Helden. Es klingt wie ein Gemeinplatz, aber ich glaube, der wahre Heroismus ist im Alltäglichen aufzufinden, in den kleinen Gesten.“ (S.230) Hier verweist er auf Aerzte, die unentgeltliche Hilfe an Flüchtlingen leisten, auf Menschen die bei Naturkatastrophen tatkräftige Hilfe leisten und besonders etwa auf die Menschen (Fischer) in Lampedusa, die ganz konkret ihre Häuser öffneten. Diesen gebühre ein Nobelpreis.

„Haben wir zu Beginn unseres Gesprächs nicht auf über die romantische Seite der Italiener gesprochen? Das hast du sie. Aber vielleicht ist <romantisch> gar nicht das richtige Wort, ich würde es eher <ungestüm> nennen. Eine irrationale lebendige Kraft, die uns am Ende alle ruinieren wird. Aber sie ist schön. Sie ist menschlich.“ (S.263/64)

*******************
Nun, wir wollen trotz Savianos kritischem Blick dieses Land bereisen und sind gespannt, welche Eindrücke und Begegnungen uns erwarten. Beim Blick in die Workaway-Profile wird jedenfalls augenfällig, dass es dort auch viele idealistische junge Menschen gibt, die der Landflucht etwas entgegensetzen möchten, die in dieser wunderbaren und fruchtbaren Landschaft ein Potenzial sehen und die Lust haben, diese Welt mit neuem Elan zu gestalten und mit neuen Werten zu prägen. Möge dies gelingen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.