Autoren: Hartmut Rosa, Niko Paech, Friederike Habermann, Frigga Haug, Felix Wittmann, Lena Kirschenmann
Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hrsg.), Oekom Verlag, München 2014
Bei »Zeitwohlstand« denkt man vielleicht zunächst einmal an Urlaub. Aber Urlaub wovon? Vom Alltag? Von der Arbeit? Vom Stress? Bestimmt. Aber Zeitwohlstand als Urlaub im Dauerzustand? für viele eine eher schauderhafte Vorstellung. Neben unserem Bedürfnis nach Entspannung wollen wir doch auch etwas schaffen, »produktiv sein«. Hier wird die Frage nach Zeitwohlstand schnell kompliziert aber auch interessant. Genau deswegen startete das Konzeptwerk Neue Ökonomie im Juli 2012 eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema unter dem Motto Arbeit und Wohlstand neu definieren – Politische Diskussion und Vergnügen kommen zusammen . Wir haben Vorträge gehört, hinterfragt und diskutiert. Dazu haben wir vegane Torten gebacken und gleich gegessen, Konzerte gehört und ein fiktives Arbeitsamt besucht. Alle RednerInnen der Vortragsreihe haben für dieses Buch einen Text geschrieben. Hinzu kommen Beiträge der VeranstalterInnen, Spiele und Bauanleitungen und da haben wir es, ein Buch über Zeitwohlstand. (Seite 8)
Frigga Haug, Zeit, Wohlstand und Arbeit neu definieren
»Jeder weiß, dass es nicht unendlich Zeit gibt. Diese Ressource ist vielmehr äußerst begrenzt, messbar und außerordentlich gleich für Jede und Jeden.« Doch wie Frigga Haug schreibt: Die Zeit ist umkämpft. Sie »gehört uns und zugleich müssen wir sie weggeben und eintauschen: Indem wir sie als Arbeitszeit verkaufen, wollen wir leben und mitmachen.« Auf den folgenden Seiten skizziert Frigga Haug die Entwicklung des Arbeitsmarktes und dessen Rolle in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren. Sie erklärt, welches Verständnis von Zeit hinter der Hartz IV-Gesetzgebung liegt und welche Stolperfallen und Gefahren es birgt. Frigga Haug bietet uns einen Orientierungsrahmen für einen anderen Blick auf Arbeit: Die 4-in-1Perspektive ist eine Vision von einer gerechten, ungewohnten und ganz anderen Art mit Arbeit umzugehen. Sie verbindet die Bereiche der fürsorgenden Arbeit, des politischen Engagements, der persönlichen Entwicklung und der Erwerbsarbeit. Es geht um eine gerechte Verteilung. Von Zeit und von Arbeit. (Seite 27ff)
Niko Paech, Suffizienz und Subsistenz: Therapievorschläge zur Überwindung der Wachstumsdiktatur
Niko Paech ist aufgebracht. Der Ökonom – in Deutschland einer der bekanntesten Fürsprecher einer Postwachstumsökonomie – schreibt einen feurigen Aufruf zum Wandel unserer Wirtschafts- und Lebensweise. Ausgehend davon, dass die heutigen Konsumgewohnheiten ökologisch nicht tragfähig sind, beschreibt er ihre negativen sozialen Folgen, die jetzt bereits spürbar sind: Menschen sind zunehmend gestresst und unglücklich. Für reiche Industrienationen sieht er nur einen erfolgversprechenden Weg: Suffizienz und Subsistenz. Das heißt: weniger verbrauchen, mehr selbst machen. Nur so fänden wir zu einer nachhaltigen Lebensweise, zu einem nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Aber auch zu einem nachhaltigen Umgang mit Zeit – laut Paech die knappste Ressource, über die wir verfügen. (Seite 41ff)
Hartmut Rosa, Resonanz statt Entfremdung: Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne
»Was hält uns davon ab, ein gutes Leben zu erreichen?« Pointiert und provokant stellt Hartmut Rosa in seinem Beitrag zehn Thesen auf, die sich als Problemanalyse unserer Zeit lesen lassen. Seine Diagnose: Getrieben durch der unserer Gesellschaft inne wohnenden Steigerungslogik entfremden wir uns immer weiter von unserer Umwelt. Die daraus resultierenden Entfremdungserfahrungen lassen uns die Welt als kalt, äußerlich, fremd erscheinen. Was tun? Als Maßstab eines gelingenden Lebens und der Steigerung von Lebensqualität schlägt Rosa die Ermöglichung und Sicherung von ›Resonanzerfahrungen‹ vor. Es geht ihm um Erfahrungen des Berührt- oder Ergriffenseins. Darum, dass die Welt unseren Impulsen antwortet, dass wir uns wieder als aktiven, mitgestaltenden Teil der Welt wahrnehmen. Dafür braucht es Raum und nicht zuletzt Zeit. (Seite 63ff)
Felix Wittmann, Zeit für die Wohlstandsdebatte
„Eine gesellschaftliche Debatte über unser Wohlstandsverständnis steht an. Hierüber stimmt Felix Wittmann mit den anderen Autor_innen dieses Bandes überein. In seinem Beitrag analysiert er, ob unsere Demokratie für diese Debatte überhaupt tauglich ist und attestiert ihr erhebliche Mängel. Vor allem fehle schlichtweg die Zeit eine solche Debatte zu führen. Denn unsere Politik zeigt sich heute zunehmend gehetzt – vor allem durch wirtschaftliche Entwicklungen. Wie können also demokratische Prozesse wieder belebt werden, sodass eine fruchtbare Debatte über die Frage, wie wir eigentlich leben wollen, in der Mitte der Gesellschaft geführt werden kann? Dafür braucht es laut Felix Wittmann Veränderungen. Sowohl innerhalb der Institutionen, als auch in den Köpfen der Bürger_innen.“ (Seite 75ff)
1. Lokale Beteiligungsmöglichkeiten verbesseren
2. Demokratische Bildung vertiefen
3. Zeiten und Räume für demokratische Beteiligung schaffen
4. Demokratisierung der Wirtschaft fördern
5. Mediale Berichterstattung verbessern
6. Institutionelle Aenderungen für mehr Demokratie durchsetzen
*************
Die Lektüre dieses Buches hat bei mir viel Zustimmung gefunden. Ich hatte gar das Gefühl, hier bringe jemand in klare Worte, was mich schon Jahrzehnte umtreibt. Wenn ich vor gut zwanzig Jahren mit Freunden zusammen den „Ziithandel Trogen“ gegründet hatte, so war das der Versuch, Menschen und ihre Ressourcen miteinander in Austausch zu bringen, ganz unabhängig von Geldverschiebungen, Diplomen, Zertifikaten und „allgemeinen Geschäftsbedingungen“. Mich beschäftigte der Gedanke, dass doch alle Menschen über wertvolle Fähigkeiten verfügen, ganz egal ob studiert oder angelernt, ob Ausländer oder Schweizer, ob alt oder jung, ob behindert oder „nichtbehindert“ (gibt es das überhaupt?), ob Flüchtling oder Pensionär. Und mich beschäftigte der Gedanke, dass doch alle Menschen in ähnlicher Weise über ein begrenztes Mass an Lebenszeit verfügten – und dass sie über deren Verwendung möglichst selbstbestimmt sollten entscheiden können. Was lag also näher als ein Tausch-System.
Betrachtet man etwa die Pendler-Gesichter an einem frühen Morgen, so wird klar, dass Motivation, Freude und selbstbestimmtes Tätigsein wohl höchst relativ verteilt sind. Betrachtet man darüber hinaus, welche „Produkte“ mit „ehrenwerter Arbeit“ hergestellt und auf den Markt gebracht werden, so kann das Ergebnis so mancher Arbeit höchst kritisch bewertet werden. Nehmen wir dazu, dass heutzutage auch viele Produkte mittels geplanter Obsoleszenz willentlich vorzeitig kaputt gehen, oder dass viele Produkte der Konkurrenz halber (häufig noch zu Dumping-Preisen, die die tatsächlichen Ressourcen- und Herstellungskosten bei weitem nicht decken) produziert werden und vorhersehbar auf der Müllhalde landen, so wird klar, dass man auf gewisse Arbeitsleistungen auch gut verzichten könnte. Ganz zu schweigen von all jenen „Segnungen“ unserer Marktwirtschaft, die lediglich der (Selbst-)Ausbeutung, Pornografie, Missbrauch, Gewalt, Rücksichtslosigkeit, Suchtgefahr etc. dienen. Unter all diesen Aspekten ergibt sich die Kardinalfrage, wie Menschen ihre Lebenszeit sinnvoll nutzen, ihre Arbeitszeit bei freudigem Tätigsein verbringen und dabei nachhaltige gesellschaftliche und gemeinschaftliche Werte vermehren können. Zeit – Wert – Arbeit.
Jahrzehnte der Berufstätigkeit im Feld der sozialen Arbeit schloss ich Anfang 2019 ab, indem ich den vorzeitigen Ruhestand antrat. Selbst dieses einstmals idealistisch und solidarisch geprägte Arbeitsfeld ist heute durch die globalen, finanzmarktgetriebenen, marketinggesteuerten und qualitätskontrollierten Blasen einer entfesselten Marktwirtschaft dominiert und macht mir nicht mehr wirklich Freude.
Eins-zu-eins-Beziehungen, persönliche Begegnungen und die Originalität kreativer Menschen mögen eine neues Wirtschaften nach Prinzipien der Subsistenz und Nachhaltigkeit prägen: soviel wie nötig ist genug. So möchte ich die mir verbleibenden Jahre gewissermassen „auf Basis meines persönlichen minimalen und bedingungslosen Grundeinkommens“ gestalten, die verbleibende Lebenszeit nach eigener Schwerpunktsetzung nutzen, reisend die näheren und ferneren Welten erfahren und im Rahmen von Workaway-Einsätzen mich freiwillig nützlich machen und in neue kreative Lebenswelten eintauchen.
Was mich dazu motiviert oder gar dazu berechtigt? Im Buch „Zeitwohlstand“ ist die nachfolgende Geschichte abgedruckt, die mir Antwort genug ist und die Bedeutung und Wichtigkeit von uns Menschen wieder mal auf wohltuende Weise relativiert:
*************
Erdgeschichte und Menschheit in einem Jahr
JANUAR Die Erde entsteht aus einzelnen Klumpen aus Gesteinsbrocken, Staub und Gas.
FEBRUAR Die Erde hat einen schweren Eisenkern, um den herum ein Mantel von leichteren Silikaten liegt, darüber eine Gashülle, die überwiegend aus Wasserstoff besteht. Der Mond hat bereits eine – mindestens teilweise – feste Kruste.
MÄRZ Im Laufe des Februar und März kühlt sich die Erde weiter ab.
APRIL Es entstehen die ersten festen Schollen an der Oberfläche des noch glutflüssigen Erdmantels. Die Erdatmosphäre hat ihren Wasserstoff teilweise in den Weltraum verloren. Freien Sauerstoff gibt es noch nicht.
MAI Es bilden sich Ozeane, Flüsse und Seen. Das Wasser beginnt sogleich zusammen mit dem Wind, Erhebungen der Erdkruste abzutragen. Mitte Mai entstehen die allerersten Lebensspuren im Meer – Bakterien. Ihr Stoffwechsel setzt Sauerstoff in der Atmosphäre frei.
JUNI JULI AUGUST Erst Ende August gibt es genügend Sauerstoff für die einfachsten Tiere. Aus dieser Zeit stammen die Überreste von kleinen zweischaligen Krebsen. SEPTEMBER Erdschollen brechen auf, schieben sich übereinander, Gebirge entstehen und werden von Wind und Wasser wieder eingeebnet.
OKTOBER Bei gewaltigen Lavaergüssen wird der ganze Nordosten Kanadas, eine Fläche von 5 Millionen Quadratkilometer, 5 Kilometer hoch mit einer Lavaschicht überzogen. Um dieselbe Zeit beginnt eine erste Eiszeit; sie dauert einen oder zwei Tage unseres Modelljahres.
NOVEMBER Die Erde dreht sich in knapp 21 Stunden um ihre Achse; das Jahr hat 425 dieser kur zen Tage. Am 22. November entstehen innerhalb weniger Stunden die Baupläne sämtlicher Lebewesen. Bis Silvester wird nichts wesentlich Neues hinzukommen.
DEZEMBER
6. Dezember Die ersten Tiere kriechen auf das Festland.
7. Dezember Das Karbon-Zeitalter beginnt. Die Wälder, deren Überreste wir heute als Steinkohle verheizen, wachsen und vergehen. In ihnen tummeln sich Reptilien und Insekten.
12. Dezember Zwischen dem 7. und 12. Dezember unseres Modelljahres entwickeln sich aus den Reptilien die ersten Säugetiere, die ersten Vögel und die Riesenechsen, die Saurier. Ungefähr am 12. Dezember beginnt eine neue große Eiszeit, die bis zum 14. Dezember anhält.
13. Dezember In Nordamerika falten sich die Appalachen, in Nordafrika das Atlasgebirge und in Deutschland die meisten Mittelgebirge. Alle Kontinente bilden nun einen einzigen großen Festlandsblock – Pangea. Saurier, Säugetiere, Vögel und Insekten, breiten sich ungehindert aus und entwickeln zahlreiche neue Arten und Formen.
16. Dezember Bis zum 16. Dezember bleibt der Urkontinent zusammen. Dann reißt er auseinander, getrieben von den Kräften des Erdinnern.
27. Dezember Saurier sind die beherrschende Lebensform auf der ganzen Erde. Dann, am Mittag des 27. Dezember, sterben sie plötzlich und unerwartet aus. Am Nachmittag des 27. Dezember beginnt der Aufstieg der Säugetiere.
28. Dezember Alle heutigen Hochgebirge entstehen- die Rocky Mountains in Nordamerika, die Landverbindung zwischen Nord- und Südamerika, die Anden in Südamerika, die Alpen, die Karpaten, der Kaukasus in Europa. In Asien rammt Indien am 29. Dezember gegen Tibet und verursacht die Auffaltung des Himalaya-Gebirges. 31. Dezember Am Abend finden sich erste Spuren früher
Menschentypen in Ostafrika. Gegen 22 Uhr
beginnt in Europa, Asien und Nordamerika eine Periode großer Vereisung mit
wärmeren Zwischenzeiten. Um 23 Uhr 50,
in einer solchen Zwischen-Warmzeit, ist die Höhle im Neandertal bei Düsseldorf
bewohnt. Um 23 Uhr 57 beginnt der
vorläufig letzte große Vorstoß des Eises, in Deutschland werden Teile
Schleswig-Holsteins, Pommern und Ostpreußen unter Gletschern begraben. Um 23 Uhr 58 entstehen die Höhlenmalereien in
Lascaux und in Altamira. Um 23 Uhr 59
tauen die Gletscher in der norddeutschen Tiefebene und in Skandinavien. Erst in
diesem Augenblick, mit der letzten Minute unseres Modelljahres, beginnt die
eigentliche Kulturgeschichte der Menschheit.
Um 23 Uhr 59 und 28 Sekunden wird in Ägypten die Cheopspyramide
errichtet. 18 Sekunden vor Mitternacht werden die Bücher Moses, Homers Ilias
und Odyssee geschrieben. 13 Sekunden vor
Mitternacht wird Christus geboren und gekreuzigt. 4 Sekunden vor Mitternacht
wird die Buchdruckerkunst erfunden, 3 Sekunden vor Mitternacht sucht Kolumbus
den Seeweg nach Indien und stößt auf Amerika.
In der vorletzten Sekunde vor Mitternacht leben Napoleon, Goethe und
Beethoven. In der letzten Sekunde
des Jahres versechsfacht sich die
Erdbevölkerung, verbraucht einen großen Teil ihrer Kohle-, Öl- und Erzvorräte und
bringt sich in Gefahr, ihre Umwelt zu vergiften und die Erde unbewohnbar zu
machen.
Maßstab
1 Monat = 420 Millionen Jahre
1 Woche = 100 Millionen Jahre
1 Tag = 14 Millionen Jahre
1 Stunde = 600 000 Jahre
1 Minute = 10 000 Jahre
1 Sekunde = 160 Jahre
In diesem Maßstab dauert ein Menschenleben von 80 Jahren also rund eine halbe Sekunde.
(alle Infos von http://www.wolfgangbeyer.de/erdgeschichte/gesamtgeschichte.htm am 25.4.2013 um 12:45 Uhr)