Wochen 13 und 14 / 17.-29.Juni

Unsere ersten Eindrücke in Belgien: eine weite und flache Landschaft, ideal zum Velofahren; freundlich grüssende Menschen mit zuvorkommender Sympathie gegenüber RadfahrerInnen. Aber auch Schnellstrassen mit hektischem Verkehr, abenteuerlichen Abzweigungen – Kreisverkehr scheint hier noch wenig verbreitet zu sein – und dichtem Lastwagenverkehr auch an Wochenenden. Auf dem Land rumpelt es zuweilen noch beträchtlich auf Abschnitten mit Betonplatten-Strassen oder gar mit rustikalem Kopfsteinpflaster. Dann die vielen Einfamilienhäuschen mit den akkurat gepflegten Vorgärten, die Rasenflächen mit Bürstenschnitt, farblich sortierte Blumen in Reih und Glied und Gartenzwerge die stramm stehen. Ausgewanderte Schweizer? Viele kleinere Dörfer und Wohnsiedlungen wirken etwas ausgestorben, wenn auch sehr gepflegt.

Unser Workaway-Einsatzort stellt demgegenüber ein absolutes Kontrastprogramm dar. Der ehemalige Bauernhof wurde die letzten 25 Jahre über als Bed&Breakfast und Ferienort für Familien betrieben, ein sehr vielfältiger Lebensraum für Menschen, Pflanzen und Tiere. Je nach Standpunkt ein paradiesischer Ort, ein Garten Eden, ein Abenteuer-Spielplatz, ein Urwald oder ein unübersichtliches Durcheinander. Das meernahe und doch warme Klima begünstigt ein üppiges Wachstum; da ist es eine ständige Herausforderung, die Balance zwischen Natur und Kultur zu schaffen bzw. naturnah zu Gärtnern ohne zu verwildern. Die gewährende (passive?) Haltung gegenüber allem was Früchte trägt oder tragen könnte hat etwas Grosszügiges und Einladendes; der Tagesablauf ist von Gelassenheit und Ruhe geprägt. Jedoch fiel es uns zuweilen nicht leicht, darin den „roten (oder besser grünen?) Faden“ zu sehen bzw. die gestaltende Absicht zu erkennen und die ordnende Hand zurückzuhalten. Viele Impulse zur Selbst-Reflexion jedenfalls .
Welches Leitbild des Gärtners gilt bzw. trägt wohl? Sagt die Gärtnerin den Pflanzen, wo’s durchgehen soll bzw. was wo wachsen darf …. oder ist es vielmehr der Gärtner, der sich dem Wachstumswillen der Pflanzen unterzuordnen hat und höchstenfalls kluge und minimale Eingriffe vornimmt? Eine einfache und allgemeingültige Antwort darauf gibt es wohl nicht. Beide Positionen scheinen situativ angemessen …. und können – absolut verstanden – in Erstarrung oder Chaos führen.

Auch in Belgien kann es sehr heiss sein: während die Durchschnitts-Klimatabelle für den Monat Juni von 21 Grad sprach, vermelden die Meteodienste derzeit zwischen 28 und 35 Grad. Tatsächlich aussergewöhnlich. Zum Glück kennt Belgien eine hochstehende Bierkultur: wir können unzählige Abtei-Biere in allerlei Varianten ausprobieren.

Ein Fahrrad-Ausflug nach Brügge lässt uns eine malerische Stadt mit vielen Kanälen – und Touristen – entdecken. Für Museen ist es zu warm, das Flair in den Gassen ist aber alleweil sehenswert und dem Auge bzw. der Kameralinse bieten sich viele schöne Blickwinkel an.

Am Wochenende steuern wir frühzeitig den Stellplatz beim Yacht- und Kanuklub in Gent an. Diese ebenso malerische, quirlige und bunte Stadt begeistert uns. Man spürt allenthalben die Kreativität und Experimentierfreude in dieser studentisch geprägten Universitätsstadt. Unzählige Plätzchen und Winkel um sich aufzuhalten, auszutauschen, zu sinnieren und flanieren. Gent hat den Donnerstag zum städtischen Vegi-Tag erklärt und sich damit zur Vegi-Hauptstadt Europas gekürt. Eine gute Sache, die – wenn aus Sicht der katholischen Tradition überhaupt nicht neu und bloss einen Tag vorverschoben – offenbar das nötige Sex-Appeal hat und einen unerhörten Marketing-Effekt erzielt. Sympathisch allemal, dass es hier so viele kleine, kreative und persönlich geprägte Vegi-Restaurants gibt. Während wir am Samstag inmitten unzähliger Touristen die malerischen Gassen und Kanäle abschreiten und wirklich originelle Gebäude sehen, bietet der Sonntag dann ein authentisches Gent in den Aussenquartieren: Flohmarkt, Quartierbeizen, eine Musik-Veranstaltung des städtischen Integrationsbüros mit Migranten – und in den Ruinen der Sint-Baafs-Abtei erleben wir dann ganz zufällig noch ein aussergewöhnliches Konzert aserbeidschanischer Musiker: die Botschaft Aserbeidschans hat offenbar etwas zu feiern und gibt deshalb für Landsleute und Bevölkerung dieses Konzert. Wieder mal so ein besonderer Zu-Fall.

In der zweiten Woche arbeiten wir wiederum morgens unsere 4-5 Stunden im Garten: Triebe ausbrechen bei den Weinreben (ja, die gibt es hier, sowohl im Tunnel als auch im Aussengelände), Beeren ablesen, Jäten; und Christoph ist wieder beschäftigt mit Mähen und mit dem Ausroden unzähliger Quadratmeter Dickicht zwischen Feigenbäumen, Reben, Beeren und Hühnerstall; das lässt zuweilen an Sysiphus denken. Spätnachmittags folgen dann kleine Ausflüge, etwa in die holländische Polderlandschaft an der Wester-Schelde. Hier ziehen im Abenddunst unzählige Frachter, Fähren und andere Riesenschiffe vorbei, die meisten mit dem Ziel zum Hochseehafen Antwerpen oder ins Industriegebiet von Gent.

Ein anderer Ausflug führt in das Naturschutzgebiet ZWIN; ehemaliger Luftwaffen-Flugplatz der deutschen Besatzer und Waffen-Standort im Atlantik-Wall während des zweiten Weltkriegs. Heute ein grosszügiges Naturschutzgebiet, ein moderner digitalisierter Ausstellungsort (dank Webcam und Virtual Reality müssen die Schüler nicht mehr unbedingt nach draussen in die Natur, um Beobachtungen zu machen … ???) und die Lagune bzw. Polderlandschaft ist zweifellos ein beliebtes Ferien- und Durchreise-Ziel für Vögel. Hier gibt es die wenigen Kilometer natürlicher Strand an der ansonsten weitgehend verbauten belgischen Küste. Das sei anscheinend nachvollziehbar, wenn man bedenke, dass ein ganzes Land mit 92 km Küstenlinie auskommen muss. Was soll da die Schweiz dazu sagen …?

Bei feinem Essen aus dem eigenen Garten und selbstgekeltertem Wein ergeben sich mehrere interessante Tischgespräche mit unserer Gastfamilie. Die Gespräche über Ökologie, Reisen, Politik etc. lassen auch noch andere Dimensionen von Belgien erahnen: das Land schlägt einen neuen Rekord mit mittlerweile 557 Tagen ohne gewählter Regierung. Die politischen Lager und damit auch die Gräben zwischen Wallonien (fanzösischsprechender Süden) und Flandern (flämisch/holländisch sprechender Westen und Norden) und deutsch sprechender Minderheit im Osten scheinen derzeit besonders tief und werden durch die (symbolische) Monarchie bloss noch notdürftig zusammenghalten. Das Völkergemisch in diesem „Scharnier-Staat“ scheint mit latenten Konflikten zwischen „reichem Norden“ und „armem Süden“ ständig beschäftigt zu sein. Nicht gerade eine Vorbildfunktion für das von Interessenkonflikten gebeutelte Europa – trotz EU-Sitz.

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